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Mehrdeutigkeit Ohne Maske. Paul Celans Vergeschichtlichung Der Surrealistischen Metapher (ARTIKEL) - DE

Das Dokument behandelt Paul Celans Verwendung von Mehrdeutigkeit in seiner Lyrik ohne den Einsatz von Masken. Es diskutiert die komplexe Geschichte der Celan-Forschung und wie seine Gedichte auf vielfältige Weise gedeutet wurden, oft in konträren Lesarten. Viele grundlegende Fragen zu Celans Werk können als nicht gelöst betrachtet werden.

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Mehrdeutigkeit Ohne Maske. Paul Celans Vergeschichtlichung Der Surrealistischen Metapher (ARTIKEL) - DE

Das Dokument behandelt Paul Celans Verwendung von Mehrdeutigkeit in seiner Lyrik ohne den Einsatz von Masken. Es diskutiert die komplexe Geschichte der Celan-Forschung und wie seine Gedichte auf vielfältige Weise gedeutet wurden, oft in konträren Lesarten. Viele grundlegende Fragen zu Celans Werk können als nicht gelöst betrachtet werden.

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Kapitel 4

Mehrdeutigkeit ohne Maske. Paul Celans


Vergeschichtlichung der surrealistischen Metapher
Ich finde etwas – wie die Sprache – Im-
materielles, aber Irdisches, Terrestri-
sches, etwas Kreisförmiges, über die bei-
den Pole in sich selbst Zurückkehrendes
und dabei – heitererweise – sogar die
Tropen Durchkreuzendes –: ich finde ...
einen Meridian1.

Vorbemerkungen zur Celan-Philologie


Die Celan-Philologie ist inzwischen zu einem enormen, Regalmeter um Re-
galmeter füllenden Umfang angewachsen; es versteht sich von selbst, daß sie
dadurch kaum noch überschaubar, geschweige denn angemessen in die eigene
Annäherung an Celan einbeziehbar ist; andernfalls erläge diese der Gefahr, in
die Rubrik von Tertiärliteratur abzugleiten, zu der viele Beiträge der Celan-
Forschung längst geworden sind. Doch diese Vorbemerkung ist nicht larmoyant
oder defätistisch gemeint. Die Vielzahl an Stimmen, die sich in der Beschäfti-
gung mit Celan erheben, beweist zunächst nur, daß sich an seiner Lyrik und an
seiner Poetik etwas erfüllt, was letztere nur als vage Hoffnung und in äußerst
vorsichtiger Diktion zu formulieren wagt: als das permanente „Geheimnis der
Begegnung“ (M, 198).
Es bedarf auch keines Bezugs auf die Anfänge der Celan-Forschung, um zu
ermessen, welchen weiten Weg sie bereits zurückgelegt hat, und keines Längs-
schnitts in die Sekundärliteratur, um über die Vielfalt an zum Teil konträren
Deutungen, die sie versammelt, zu staunen; im Grunde gilt die Verschiedenheit

1
Zitiert wird nach den Gesammelten Werken in fünf Bänden, hrsg. v. B. ALLEMANN und St.
REICHERT unter Mitwirkung v. R. BÜCHER, Frankfurt a.M. 1986. Fortan werden die Zitate
aus den poetologischen Schriften, die allesamt im dritten Band aufgenommen sind, durch
die hinzugefügte Seitenzahl im laufenden Text belegt und, so sie einem der drei unten
angeführten Schriften entnommen sind, durch eine entsprechende Sigle ausgewiesen;
folgende Siglen werden verwendet: ‚J‘ für Edgar Jené und der Traum vom Traume; ‚H‘ für
die Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt
Bremen; ‚M‘ für Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises;
hier: M, 202.
86 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

der Ansätze und Ergebnisse noch heute. Ein Blick auf den gegenwärtigen For-
schungsstand führt zu dem bemerkenswerten Befund, daß die meisten zentralen
Fragen zum Werk Celans keinesfalls als gelöst gelten können. Einschätzungen
von Celan, zumal Deutungen seiner Gedichte, die man allgemein als gesichert
ansehen würde, gibt es, soweit wir sehen, nicht.
Das hat ohne Zweifel in Celans Werk aufbewahrte Strukturgründe. Sie besa-
gen, daß Celans Werk im prägnanten Sinne problematischer Natur ist und kraft
seines problematischen Charakters eine noch immer aktuelle Signatur trägt,
was heißt, daß es als ein uns Auf- oder Übergebenes, aber noch nicht Überwun-
denes weiterhin als Prüfstein für die Güte unseres Verständnisses von Sprache
und Welt, Ich und Geschichte, Text und Verstehen gilt. Celans Werk dokumen-
tiert und ist durch die reiche Geschichte seiner Deutungen gerade das, wovon es
handelt und was es poetologisch sein will: innovative Schrift, in der das schrei-
bende Ich existentiell mitgegeben ist, ohne jedoch darum schon den Zugriff aufs
Ganze und den Anspruch auf einen privilegierten Zugang zur Wahrheit (des
eigenen Selbst und des Anderen: der Welt) zu behaupten; anders, in den Worten
Celans formuliert:
aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzei-
tig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlos-
senen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation. (M, 197)

Verweilen wir noch einen Moment bei einer Einschätzung der Celan-For-
schung. Winfried Menninghaus hat darauf hingewiesen, daß noch immer ein
großer Teil der Celan-Philologie mit der Herbeischaffung von biographischen
Details und der Ermittlung von Prätexten, literarischen Einflüssen und Zitat-
vorlagen befaßt ist2; zudem, daß sich, was den hermeneutischen Gewinn anlangt,
den man sich von solchen Funden für die Untermauerung von Gedichtlektüren
erhofft, „eine Art mittlere Bedenkenlosigkeit eingespielt“3 habe. Nicht selten
tritt an die Stelle einer deutenden Auseinandersetzung, die auch die Hinter-

2
Die von R. ZIKOWSKI in seinem Beitrag „schwimmende Hölderlintürme“. Paul Celans Ge-
dicht „Tübingen, Jänner – diaphan“ beharrlich gestellte Frage, ob Celan wenige Tage vor
der Niederschrift des Gedichts Tübingen, Jänner in Tübingen gewesen sei – eine Frage,
deren Antwort nach mühevollen Erkundigungen offenbleibt und fortan nur als hypothe-
tisch zum Deutungsschlüssel herangezogen werden kann –, gibt ein lebendiges Bild die-
ser Ausrichtung. Ob die „Vorstellung“ einer Koinzidenz von Besuch und Niederschrift
der „Leküre des Gedichts vielleicht eine zusätzliche Dimension“ verleiht, darf bezweifelt
werden. Der Betrag findet sich in O. PÖGGELER und Ch. JAMME (Hrsg.), „Der glühende
Leertext“. Annäherungen an Paul Celans Dichtung, München 1993, 185–211.
3
W. MENNINGHAUS, Wissen und Nicht-Wissen: Überlegungen zum Problem des Zitats bei
Celan und in der Celan-Philologie, in: Datum und Zitat bei Paul Celan. Akten des Inter-
nationalen Paul Celan-Colloquiums Haifa 1986, hrsg. v. Ch. Shoham und B. Witte, Bern /
Frankfurt a.M. u. a. 1987, 81–96; 81; ein herausragendes Beispiel des Inkriminierten ist S.
BOGUMIL, Geschichte, Sprache und Erkenntnis in der Dichtung Paul Celans, in: Pöggeler
und Jamme (Hrsg.), „Der glühende Leertext“, a.a.O., 127–142; 127.
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 87

fragung ihrer eigenen (philosophischen, methodologischen, weltanschaulichen)


Prämissen als Ergebnis zuließe, eine Distanzierung des der Deutung Unterbrei-
teten durch Positivierung von Spuren, die diesem vorausliegen. Auch das ist
gewiß eine Entschärfung der Herausforderung, die in Celans Werk liegt, und
vielleicht ist diese um nichts weniger grob als jene in den 50er und 60er Jahren,
da man Celans Lyrik unter dem Stichwort und vermeintlichen Gütesiegel des
Absoluten4 in extramundane Bereiche abzog5.

4
So etwa G. NEUMANN, Die ‚absolute‘ Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Sté-
phane Mallarmés und Paul Celans, in: Poetica 3 (1970), 188–225; in einem Brief Celans
an Franz Wurm (27.3.1970) hat dieser sich, wie aus dem Kontext deutlich hervorgeht,
gegen Neumanns Interpretation ausgesprochen. „Gestern, bei Prof. Baumann, Lesung im
kleinen Kreise. Heidegger war da, die Tochter Ludwig von Fickers, zwei Assistenten von
Prof. Baumann, der eine von ihnen [Neumann] (...) hatte schon vorher meine Gedichte ins
‚Absolut-Metaphorische‘ verrückt. Frau Baumann und eine junge Studentin haben wirk-
lich zugehört, auch der andere Assistent [Jürgen Schröder] (und dessen Frau), auch Prof.
Baumann, auch Heidegger. Ich habe hier, auch hier, manche Erfahrung gewonnen, man-
chen Einblick.“ (Paul Celan / Franz Wurm. Briefwechsel, Frankfurt a.M. 1995, 239f.).
5
Um nur ein Beispiel zu nennen: Hans Egon Holthusen vesucht anläßlich einer Rezension
der Todesfuge das Gedicht mit einem fragwürdigen Begriffsinstrumentarium in einen ge-
schichtslosen, ästhetizistischen Raum zu verlegen. Es heißt (H. E. HOLTHUSEN, Fünf junge
Lyriker, in: Merkur 74 [1954], 390): „Trinken ist Sterben als äußerste Selbstverwirkli-
chung, Opfertod, Aufsteigen zu einem ‚Grab in der Luft‘. Mit ganz wenigen einfachen
Paradoxien hat Celan ein alle menschliche Fassung sprengendes (...) Thema bewältigen
können: indem er es ganz ‚leicht‘ gemacht, es in einer träumerischen, überwirklichen,
gewissermaßen schon jenseitigen Sprache zum Transzendieren gebracht hat, so daß es
der blutigen Schreckenskammer der Geschichte entfliehen kann, um aufzusteigen in den
Äther reiner Poesie.“ Diese Einschätzung wiederholt Holthusen 1964 in seiner Rezension
der Niemandsrose (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.5.1964). Er rückt, auf Celans frühe
Lyrik zurückblickend, dessen Wendung ‚Mühlen des Todes‘ in dem Gedicht Spät und
Tief (aus: Mohn und Gedächtnis) in die Nähe „der damaligen Vorliebe für die ‚surrealisti-
sche‘, in x-Beliebigkeit schwelgende Genitivmetapher“; Peter Szondi hingegen sah, wie
er in einem Leserbrief betonte, in dieser Metapher einen zitathaften Verweis auf einen
Euphemismus für die Konzentrationslager, wie er ungeheuerlicherweise in den Kreisen
um Eichmann gängig war (worüber die FAZ an demselben Tag, an dem Szondi seinen
Leserbrief schrieb, berichtet hatte). Daß die Redaktion Szondis Brief zunächst zurück-
hielt, dann neben einer ausführlichen Replik Holthusens abdruckte, zeigt, daß Szondis
Vorwurf der Verdrängung des Vergangenen nicht ganz unbegründet war. In seiner Replik
auf Szondi bestätigt Holthusen nochmals seine erste Lesart der strittigen Metaphern,
allerdings mit dem (richtigen) Hinweis, daß er Celans Lyrik durchaus im Kontext einer
Lyrik um und über Auschwitz sehe. Perfide ist Holthusens Entgegnung auf Szondi darin,
daß er gerade jene Anteile an Celans Lyrik als Beliebigkeit insinuiert, in denen Celan
seine höchste Referentialität auf die Leiden des jüdischen Volkes aufbewahrt sieht, und
daß er dieses Insinuieren durch das Einräumen von Referenzen, die über realistische Ein-
sprengsel geleistet werden, verdeckt. Jean Bollack hat sicher recht, wenn er in der Kom-
mentierung dieser Auseinandersetzung hinter Holthusens Argumenten und ästhetischer
Konzeption nicht nur eine „Absage an eine den Rahmen des Vertrauten sprengenden
Kunst“, sondern überdies „verhehlte oder uneingestandenen politische Motive“ vermutet
(J. BOLLACK, Herzstein. Über ein unveröffentlichtes Gedicht von Paul Celan, München
1993, insbes. 13–18).
88 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

Der Grund, der die noch heute andauernde Orientierung am Feststellbaren


verständlich macht, ist leicht zu sehen. Sie entspringt zweifellos einer eklatanten
Verlegenheit: Die Suche nach positiv Greifbarem ist die Kehrseite einer beharrli-
chen semantischen Dunkelheit der Celanschen Gedichte, der man mit diesem
beizukommen hofft. Und insofern ist das klassisch hermeneutische Pathos bzw.
das Hoffen, durch das sukzessive Einholen aller relevanter textexterner Hinter-
gründe die eigene – wie Gadamer klar gemacht hat –: notwendig vor-urteilende
Beschränktheit aufzuheben, auch eine Zurückweisung jenes Postulats der Her-
metik6, gegen das sich schon Celan selbst beharrlich zur Wehr setzte: „Glauben
Sie mir – jedes Wort ist mit direktem Wirklichkeitsbezug geschrieben. Aber
nein, das wollen und wollen sie nicht verstehen (...)7.“
Problematisch ist diese klassisch hermeneutische Vorgehensweise aber dann
doch, denn sie schränkt fälschlicherweise das ‚Welthaltigkeit‘ auf Abformen ge-
schichtlicher oder biographischer Referenz ein und, was noch entscheidender
ist, setzt so erneut ein Text-, Autor und Lesermodell ins Recht, in dem der Autor
als ausgezeichnetes Subjekt die epistemische und ästhetische Autorität gegen-
über der Welt des Seienden beansprucht.
Wenn Celan in seinem Brief an Hans Bender sagt, „der Dichter werde, so-
bald das Gedicht wirklich da sei, aus seiner ursprünglichen Mitwisserschaft wie-
der entlassen“ (177), so ist dies keinesfalls als Konzeptualisierung eines aus sich
selbst heraus sinnvollen Kunstwerkes zu verstehen, das sich in jeder Lektüre ak-
tualisiert oder zumindest zu aktualisieren sucht. Vielmehr ist gemeint, daß mit
der Mitwisserschaft auch die Autorität über den in das Werk eingeschriebenen
Sinn erlischt8, was mit sich bringt, daß jedes biographische Detail und jeder

6
Beda Allemann hat zum Verhältnis von Hermetik und Verständlichkeit das Nötige zur
Klärung dieses vielverwendeten, aber dennoch zumeist obskur gebliebenen Begriffes ge-
sagt (B. ALLEMANN, Paul Celans Sprachgebrauch, in: A. C. Colin [Ed.], Argumentum e
Silentio. Internationales Paul Celan-Symposium, Berlin New York 1987; 3–15; 4): „Her-
metisch ist nicht die Sprache – das wäre eine contradictio in adiecto –, sondern undurch-
sichtig bleibt für den Außenstehenden der an sich durchaus vorhandene Bezug (wenn
er auch nicht so einfach ist, wie manche Linguisten und Semiotiker meinen) zwischen
Sachen und Wörtern.“ Hierzu eine Stellungnahme Celans (wobei man bedenken muß,
daß ‚Verständlichkeit‘ ein Dispositionsprädikat ist, also auf einen potentiellen, aktual
nicht gegebenen Kommunikationsrahmen, in dem verstanden wird, hinweisen kann):
„Eine Sprache, die niemand spricht, ist anti-poetisch. Auch was ein elektronischer Golem
aufs Band orakelt, ist anti-poetisch. Ich verwerfe jedes Orakel.“ Zit. nach H. HUPPERT,
‚Spirituell‘. Ein Gespräch mit Paul Celan, in: Paul Celan, hrsg. v. W. Hamacher und W.
Menninghaus, Frankfurt a.M. 1988, 319–324; 321.
7
Zit. nach G. BUHR, Celans Poetik, Göttingen 1976, 183. Noch eine ähnliche Selbstein-
schätzung Celans ist überliefert (Huppert, ‚Spirituell‘, a.a.O., 321): „Ich bleibe in meinen
Sachen sinnfällig, sie prätendieren niemals auf ‚Übersinnliche‘, das liegt mir nicht, das
wäre Pose. Ich lehne es ab, den Poeten als Propheten hinzustellen, als ‚vates‘, als Seher
und Weissager.“
8
Dies ist ein Gedanke, der keineswegs mit der Bemerkung in Konflikt gerät, daß der, der
das Gedicht schreibt, „ihm mitgegeben bleibt“ (M, 198).
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 89

Prätext, der zur Klärung der Gedichtgenese beigebracht wird, eben die Genese
und nicht das Gedicht erhellt. Kritisch zu beurteilen ist aber nicht nur die Idee
eines vom Autor in den Text entäußerten, dann gleichsam unverwitterbar ihm
beigegebenen Textsinns autonomer Existenz. Zu fragen wäre auch, ob Celan
nicht in dem obigen Zitat noch einen Schritt weitergeht; ob er nicht die Idee
einer in der Gedichtgenese erwirkten Übersicht und Verfügbarkeit über das Ge-
sagte zurückweist; mithin gänzlich dem Dialog, in den das Gedicht entlassen
wird, anvertraut, was dem Autor noch unmöglich war: nämlich am Gedicht die
semantische Bestimmtheit des erstmals in Sprache Gebrachten hervortreten zu
lassen.
Man wird sofort die vielzitierte Passage aus der Antwort auf eine Umfrage
der Librairie Finker Paris von 1958 dagegenhalten, in der von der „bei aller un-
abdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks“ von „Präzision“ (167) des poetischen
Ausdrucks die Rede ist. Doch es lohnt sich, genau den Kontext auszuleuchten,
gegen den der Begriff der Präzision gesetzt ist. Es heißt, „sie (die poetische
Sprache, Anm. d. Verf.) verklärt nicht, ‚poetisiert‘ nicht, sie nennt und setzt,
sie versucht, den Bereich des Gegebenen und des Möglichen auszumessen.“
Die Diktion wird auffälligerweise zusehends vorsichtiger; doch nicht die Vor-
sicht, die den Versuchscharakter des Gedichts anzeigt, gibt den Ausschlag.
Entscheidend ist letzten Endes der Projektcharakter in der Gewinnung eines
sinnvollen Entwurfs von Wirklichkeit, der im Begriff des Möglichen anklingt
und den der Schluß der Passage festhält: „Freilich ist hier niemals die Sprache
selbst, die Sprache schlechthin am Werk, sondern immer nur ein unter dem
besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich, dem es um Kon-
tur und Orientierung geht. Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und
gewonnen sein.“(167f.)
Zu erinnern wäre auch an die Art und Weise, wie Celan bereits in seiner
ersten poetologischen Arbeit sich zwischen den Betrachter und den Bildern Ed-
gar Jenés als vermittelnd-interpretierender Hermeneut einschaltet. Schließlich
spricht noch die poetologische Grundanlage der Meridian-Rede entscheidend für
diese These, die wir später im Zusammenhang mit der Metaphernfrage zu ent-
falten und zu belegen suchen. Nähmen wir diese These aber zunächst an, dann
würde aus ihr folgen, daß jede Deutung immer schon überböte, was ihr zugrun-
deliegt. Und dies nicht, weil die historische Distanz des Lesers zu der konkreten
Äußerungssituation den Zugang erschwert und die geschichtliche Kluft nie zu
überspringen wäre und daher ein divinatorisches Moment (im Sinne Schleier-
machers) erfordert; ebensowenig, weil jeder Entwurf von Sinn, auch wenn er auf
eine reiche Basis semantischer und syntaktischer Übereinkünfte zurückgreifen
kann (was bei Celan wahrlich nicht der Fall ist), will er gelingen, notwendig
einen kreativen und ungedeckten Teil, also vom Autor oder Zeichensubstrat
(signifiant) nicht determinierbare Eigendynamik besitzt. Die Deutung, die nach
den Worten Celans das dialogische (genauer: trialogische) Produkt von Autor,
Text und Leser ist, überbietet deshalb den Text, um dessen Sinn sie sich bemüht,
90 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

weil in der Deutung, und erst in ihr, über diesen langen Umweg des Dialogs das
„befremdete Ich“ (M, 196) des Autors sich selbst präsent wird und zweitens die
erst im Gespräch erschließbare Wirklichkeit sich konstituiert und besetzt wird:
Geht man also, wenn man an Gedichte denkt, geht man mit Gedichten solche Wege?
Sind diese Wege nur Um-Wege, Umwege von dir zu dir? Aber es sind ja zugleich auch,
unter wie vielen anderen Wegen, Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind
Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du, kreatürliche Wege, Da-
seinsentwürfe vielleicht, ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich
selbst ... Eine Art Heimkehr. (M, 201)

Vieles spricht dafür, daß Celan mit seinem Konzept des Dialogischen auf
eine Weise ernst macht, die die Celan-Forschung, obwohl Dialogizität zu einem
ihrer vorrangigen Reflexionsobjekte geworden ist, noch nicht ganz erfaßt und
gewürdigt hat. Die Dialogstruktur, die in der Bremer Preisrede und in der Meri-
dian-Rede postuliert wird, meint nicht nur Celans Offenheit für vorausliegende
intertextuelle Bezüge und rezeptionsgeschichtliche Anschließbarkeit9, nicht nur
die Feststellung, daß jedes Sprechen immer schon auf Alterität hin angelegt ist
und dieser Intention auf Alterität bedarf10. Dialogizität im Sinne Celans wäre
eher als eine triadische Relation zu reformulieren, die für den Moment der Be-
gegnung zwischen einem sprechenden Ich und einem angesprochenen Du die
transitorische Einheit einer punktuell erschlossenen Welt bestimmt, die sich in
der durchlässigen Intersubjektivität einer im Gedicht dialogisch vermittelten
Übereinkunft herstellt11.
9
Vgl. M. SCHMITZ-EMANS, Poesie als Dialog. Vergleichende Studien zu Paul Celan und sei-
nem literarischen Umfeld, Heidelberg 1993.
10
D. KOHLER-LUGINBÜHL (Poetik im Lichte der Utopie. Paul Celans poetologische Texte,
Bern Frankfurt a.M. New York 1986, 205f.) spricht den Arbeiten von M. JANZ (Vom En-
gagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans, Frankfurt a.M. 1976),
G.-M. SCHULZ (Negativität in der Dichtung Paul Celans, Tübingen 1977) und W. MENNING-
HAUS (Paul Celan. Magie der Form, Frankfurt a.M. 1980) ein kategorial höheres Niveau
der Reflexion auf das Dialogische bei Celan zu. Es ist nicht leicht zu sehen, aus welchen
Gründen dieser Befund erhoben wird. Zwar ist richtig, daß diese Arbeiten den perma-
nenten Vorwurf des verkappten Subjektivismus oder der Monologizität, den J. RYAN
(Monologische Lyrik. Paul Celans Antwort auf Gottfried Benn, in: Basis. Jahrbuch für
deutsche Gegenwartsliteratur, hrsg. v. R. Grimm und J. Hermand, Bd. 2, 1971, 260–281)
gegen Celan erhebt, metakritisch zurückweisen. Problematisch bleibt das Dialogkonzept
der drei zunächst genannten Autoren aber dann doch, und zwar insofern sie an dem
starken Subjektbegriff eines sich selbst durchsichtigen Ich und dessen Autorität über die
semantische Identität seines Sprechens festhalten – ein Konzept des Subjekts, das Celan
– und darin besteht der qualitative Sprung – gerade aufgegeben hat. Anders, aber ebenso
unbefriedigend, Emmanuel Lévinas (Vom Sein zum Anderen – Paul Celan, in: E. LÉVINAS,
Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, Textauswahl und Nachwort v. F.
P. Ingold, München 1988, 56–66): Er simplifiziert bei aller Bewunderung für Celan dessen
Lyrik zu einer semiologischen Operation der Alteritätssuche ohne semantischen Gehalt.
11
Soweit wir sehen, haben sich allein zwei der jüngsten monographischen Arbeiten zu
Celan auf dessen Radikalität im Gedanken des Dialogs hinbewegt, ohne sie allerdings
schließlich wirklich zu treffen. Neben M. JAKOB (Das „Andere“ Paul Celans oder Von den
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 91

Man muß zumindest die Radikalität dieses Gedankens, so fraglich die Aus-
sicht auf eine realkommunikative Bewährung auch sein mag, würdigen. Das
Selbst des Selbstbewußtseins, das sich im Gedicht ausspricht, ist sich nicht un-
zeitlich gegenwärtig, zumal der vorgängige Sprachhorizont „keine Worte her
(gab) für das, was geschah“ (H, 186). Das Subjekt muß den anderen zum Zeugen
seines Selbstseins bestellen, denn, obwohl dem Gedicht als Urheber und „Mit-
wisser“ beigegeben, erfährt es sich erst in der Brechung der dialogisch zurück-
gespiegelten Bedeutung12.
Zwar hat jeder Gedanke notwendig eine individuelle origo, sei dieser Gedanke
nun selbstbezogen als Ausdrucks- bzw. Erschließungsversuch des Eigenpsychi-
schen oder sei dieser nun bezogen auf die Welt, die wir gemeinsam bewohnen.
Deshalb spricht Celan von dem Gedicht als der „gestaltgewordenen Sprache
eines Einzelnen“ (M, 198). Doch obwohl dem Ursprung eines Gedankens not-
wendig etwas Individuelles anhaftet, gilt dies für das, was ihm Bedeutung und
semantische Bestimmung verleiht, nicht. Die Gedanken, die wir ausdrücken
wollen, und die Gefühle und Erfahrungen, die wir haben, sind sprachlich in ei-
ner Welt angesiedelt, die der Dialog erschlossen hat13. Ist der diskursive Raum,

Paradoxien relationalen Dichtens, München 1994) ist es vor allem B. FASSBIND (Poetik
des Dialogs. Voraussetzungen dialogischer Poesie bei Paul Celan und Konzepte von In-
tersubjektivität bei Martin Buber, Martin Heidegger; und Emmanuel Lévinas, München
1995), der die „poetische(n) Texte (Celans, Anm. d. Verf.) auf ihre Dialogizität sowie auf
ihre implizite Konzeption von Intersubjektivität hin zu untersuchen und transparent zu
machen“ (11) versucht. Daraus leitet Fassbind zunächst und vor allem die Konsequenz ab,
daß der Autor die Art und Weise, wie Leser dem lyrisch Geäußerten semantische Werte
beilegen, keineswegs vollständig überschauen und im vorhinein bestimmen kann. Aller-
dings verlegt Fassbind die Unzeitlichkeit und mangelnde Kopräsenz von Autor und Leser
als textlich realisierte Rede- und Antwortinstanz in den Raum des Gedichts selbst und
trägt so nicht unerheblich zur Entschärfung des Dialoggedankens bei. Und schließlich
ist er doch in die vom französischen Neostrukturalismus ausgelegte Falle gegangen: daß
Referenz jenseits eingespielter Repräsentation nicht denkbar wäre und so nicht-reprä-
sentationalistisches Sprechen zur „‚bloss‘ (...) textlich inszenierten Instanz“ depotenziert
wird (82).
12
Zur Problematisierung einer dem Gedicht vorgängigen Selbstdurchsichtigkeit des Selbst
vgl. J. BOLLACK, Die Fremdheit. Über Paul Celan, in: Akzente 41 (1994), Heft 3, 367–381,
insbes. 372–375.
13
Es ist klar, daß der semantische Raum, der den sinninnovativen Bemühungen eines ein-
zelnen eine bestimmte Bedeutung zu verleihen sucht, auch unabhängig von diesem und
seiner Beteiligung gedacht werden kann, ohne daß der Raum den Charakter des Dialo-
gischen verlöre. Gerade an extrem von der bisherigen Sprachpraxis unterdeterminierten
(untermotivierten) Textbeispielen wie Celans Lyrik oder Finnegans Wake von Joyce läßt
sich der kommunikative Projektcharakter der Rezeption deutlich machen. Erst wenn
man das „Modell eines einsam sich in ein Objekt versenkenden und im Nachvollzug es
wieder erschaffenden Rezipienten“ verabschiedet, kann der Gedanke raumgreifen, daß
allein „in einer polyphonen und kommunikativ gelösten Lektüre die ästhetischen Ener-
gien des Textes entbunden (werden).“ (A. WELLMER, Zur Kritik von Moderne und Postmo-
derne. Vernunftkritik nach Adorno, in: DERS., Zur Kritik von Moderne und Postmoderne.
Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a.M. 1985, 48–114; 67.)
92 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

der einer Gesellschaft zur Verfügung steht und in dessen Licht die gemeinsame
Welt sprachlich schematisiert war, durch die Hypothek der Geschichte frag-
würdig geworden, so bedarf es in der Tat der Initiative von einzelnen, um eine
neue, welterschließende Sprache auf den Weg zu bringen. Diese ist aber nicht
– und kann es nicht sein – das in einem monologischen Prozeß der Selbstver-
ständigung und des qualifizierenden Bezuges zur Welt semantisch bereits be-
stimmte Sinnangebot, welches ein ausgezeichneter einzelner einer Gesellschaft
übergibt. Es müßte vielmehr das interaktive und intersubjektive Produkt einer
Begegnung mit einem im Dialog angesprochenen anderen sein. Ohne ihn verlö-
re es die immer wieder, obwohl nur punktuell gelingende Bestimmtheit seines
Bedeutens.
Das Gedicht wird – unter welchen Bedingungen! – zum Gedicht eines – immer noch –
Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten, dieses Erscheinende Befragenden
und Ansprechenden; es wird Gespräch – oft ist es verzweifeltes Gespräch.
Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich
um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Ange-
sprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein mit.
Noch im Hier und Jetzt des Gedichts – das Gedicht selbst hat ja immer nur diese eine,
einmalige, punktuelle Gegenwart –, noch in dieser Unmittelbarkeit und Nähe läßt es das
ihm, dem Anderen, Eigenste mitsprechen: dessen Zeit. (M, 198f.)

Diese radikale Interpretation der Dialogizität übersteigt gleichsam den lin-


guistic turn nochmals dialogisch, indem sie die Verständigung an das Hier und
Jetzt eines seines Sinnes noch unsicheren Sprechens rückbindet.
Insofern ist das Bild der Flaschenpost, das Celan in der Bremer Rede für das
Konzept eines dialogischen Gedichts findet (später aber nicht mehr aufgreift)
nur unter bestimmten Vorbehalten geglückt: es gibt einen Hinweis auf die Fra-
gilität und Unabsehbarkeit einer möglichen dialogischen Einlösung, weil eine
Flaschenpost immer an ein disperses Publikum gerichtet ist; es schafft eine le-
bendige Vorstellung davon, daß hier ein Einsamer spricht, dem kein begangener
Weg der Kommunikation „für das, was geschah“ offen steht, kein Weg, der nicht
von den Unwägbarkeiten bedroht wäre, die einer Flaschenpost eigen sind; aber
das Bild der Flaschenpost birgt auch die Gefahr, daß es verstanden wird, wie
es in der Forschung immer wieder verstanden wurde: als Bild für eine in einem
hermetischen Code verschlüsselte Botschaft, die der Leser, so er die Botschaft
erhält und den Geheimschlüssel besitzt, identisch rückübersetzen könnte14.
14
Vgl. etwa Kohler-Luginbühl, Poetik im Lichte der Utopie, a.a.O., 54. Christoph Parry (Ch.
PARRY, Meridian und Flaschenpost. Intertextualität als Provokation des Lesers bei Paul
Celan, in: Celan-Jahrbuch 6 [1995], 25–50) weist zu Recht auf die fraglichen texttheore-
tischen und textontologischen Prämissen Gadamers in dessen Interpretation der Lyrik
Celans und der Deutung der Flaschenpost-Metapher hin. Wer allerdings – wie Parry dies
tut – aus dem berechtigten Zweifel, ob in den Gedichten Celans ein bestimmtes, aber
verschlüsseltes Etwas aufbewahrt und als mens auctoris dem Gedicht gleichsam unver-
witterbar beigegeben ist, schließt, ein richtiges Verstehen sei prinzipiell, also von allem
Anfang an unmöglich und durch das Changieren von Intertexten substituiert, verabsolu-
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 93

Wäre es so, dann verlöre die Notwendigkeit, Orientierung in der (inneren wie
äußeren) Welt, die sich Celan vom Gedicht erhofft, an den Dialog zu binden,
jede Plausibilität. Denn dann wäre Orientierung subjektiv vorhanden, wenn
auch nicht anderen mitteilbar. Aber Celan hat daran festgehalten, daß Orien-
tierung in einem durch die Leidensgeschichte der Menschheit orientierungslos
gewordenen Raum nur gelingen kann auf dem Niveau einer gemeinschaftlichen
Erschließung der Welt im Medium einer gemeinsamen Sprache.

Edgar Jené und der Traum vom Traume. Die surrealistische Bildlichkeit
im Dialog mit der Leidensgeschichte15
Celans radikale Idee, daß die semantische Bestimmtheit des Gedichts bezogen
auf die zu erschließende innere wie äußere Welt diesem nicht vorausliegt noch
ihm innewohnt, sondern allein unter der Bedingung von Akten gelungenen dia-
logischen Verstehens hervortritt, diese radikale Idee wird man besser würdigen
und verstehen können, wenn man analysiert, wie Celans Konzeption sich von
seiner ersten poetologischen Schrift Edgar Jené und der Traum vom Traume
(1948) bis zur Meridian-Rede wandelt. Die Forschung hat noch keinen Konsens
darüber erlangt, ob und inwieweit das Frühwerk Celans im Lichte der Ästhetik
und der Bildlichkeitskonzeption des Surrealismus zu deuten ist und welche Ein-
flüsse tatsächlich belegbar sind.
Unstrittig allerdings ist inzwischen, daß der Jené-Text einen konzeptuellen
Nachvollzug der surrealistischen Bildlichkeit versucht, ohne es zu unterlassen,
dabei den eigenen poetologischen Standpunkt zu entfalten. Allerdings wäre es
verfehlt, Celan eine bloß formale Natur seiner surrealistischen Tendenzen zu
unterstellen; die biographischen Verbindungen Celans zum Surrealismus sind
einschlägig: die frühe Bekanntschaft mit der neueren französischen Lyrik wäh-
rend seiner Studienjahre in Tours (1938–39), seine Begegnung mit der surre-
alistischen Avantgarde Rumäniens in den Jahren 1945 bis 1947 und letztlich
die Freundschaft mit dem Maler Edgar Jené, der als Bildredakteur der Wiener
Zeitschrift Der Plan tätig ist, in dem auch Celan veröffentlichte16.
Wie eng die persönliche Verbindung war und wie tief sie in das ästhetische
Selbstverständnis beider eindrang, läßt sich daran erkennen, daß die Titel der

tiert – kaum vermutet – Verständlichkeitsstandards, die selbst noch eine rationalistische


Fiktion darstellen und moderner Lyrik keinesfalls angemessen sein können. Diese These
verkennt den projektiven Charakter einer lyrischen Bedeutsamkeit, die im Raum der
Kommunikation erst noch und immer wieder konstituiert und bestimmt werden muß.
15
Für eine monographische Analyse dieses Celan-Textes vgl. Klaus MÜLLER-RICHTER, Pauls
Celans ‚Edgar Jené oder der Traum vom Traume.‘ Temporales Schichtungsverfahren
und poetologischer Gehalt, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft
45/1 (2000), S.75–95.
16
Es ist daher auch anzunehmen, daß Celan Werner RIEMERSCHMIDS Programmessay Über
surrealistische Lyrik aus dem Plan von 1947 (S.256–262) gut kannte.
94 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

Lithographien Jenés, die Celan mit seinem Aufsatz einleitet, sich nicht selten
in Celans Lyrik wiederfinden17. Auch die Meditationen über die Bilder Jenés,
die in den Essay lose eingebunden sind, ähneln in Struktur und Formulierung
Prosakompositionen aus lyrischen Fragmenten Celans.
Unsere These lautet nun, daß der Jené-Text, verstanden als vorläufige Posi-
tionsbestimmung von Celans Verständnis des Surrealismus, zunächst die eman-
zipatorische Stoßkraft der orthodoxen surrealistischen Ästhetik, insbesondere
die der kühnen Bildlichkeit gegen die eingespielte und als Gefängnis empfunde-
ne (Sprach)-Ordnung diskutiert und zu ermessen sucht. Sodann grenzt er sich
gegen Modelle einer „Rückkehr zu einer unbedingten Naivität“ (J, 156) ab, die
auf eine „vernunftmäßige Läuterung unseres unbewußten Seelenlebens“ (J, 156)
hinauswollen.
Der Text ist allerdings von Signalen einer kritischen Haltung gegenüber
Anlage und Funktionsbestimmung der kühnen Metapher nicht frei. Denn die
Konzeptualisierung der surrealistischen Bildlichkeit, initiiert aus einem kritisch
gegen die Verfallsgeschichte der Sprache gerichteten Impetus heraus, beginnt,
die Geschichtlichkeit von Sprache und die geschichtliche Indexikalität von Lei-
derfahrungen aus dem Blick zu verlieren; sie behält zwar einen aus dem Frei-
heitsgefühl der kühnen Metapher gewonnenen anarchischen Impuls zurück, der
auf die repressive Wirklichkeit kritisch bezogen ist; aber ansonsten bleibt das
surrealistische Bild, zugeordnet der Sphäre des Traums, auf die bestehende Ord-
nung lediglich kontrafaktisch bezogen. In welcher Richtung die neue Ordnung
oder die neue Sprache gegebenenfalls zu suchen wäre, wenn die surrealistische
Metapher ihr Zersetzungswerk an den eingespielten Ordnungen vollendet hat,
bleibt aufgrund der rein negativen Konzeption ihrer Kritik offen: das ist der
Preis ihrer Ungeschichtlichkeit18.
Der Text setzt diese distanzierenden Signale sehr behutsam; sie sind nicht
auf sachlich-argumentative Weise gewonnen und ausgestellt, sondern sind allein
in der essayistischen Dynamik manifest und in der literarischen Anlage und
Schichtung greifbar. Soviel bereits an dieser Stelle: Die Ich-Instanz setzt retros-
pektiv das Gespräch, in dem die Idee der surrealistischen Metapher entfaltet
wird, subtil, aber unübersehbar ab von den lyrischen Meditationen, die Jenés
Bilder direkt ansprechen oder als Ergebnisse des „Gangs unter die Bilder“ (J,
155) gelten müssen – eine Absetzung, die weit strenger ausfällt, als dies von
der suggestiven Exposition her nachvollziehbar wäre19. Insofern das Gespräch

17
Vgl. Kohler-Luginbühl, Poetik im Lichte der Utopie, a.a.O., 15.
18
In diesem Sinne läßt sich Jakobs etwas undeutlich formulierte Rekonstruktion von Ce-
lans Verständnis und Kritik der surrealen Metapher präzisieren. Bei Jakob (Das „Ande-
re“ Paul Celans, a.a.O., 158) heißt es mit Blick auf das surreale Bild, „daß der anarchische
Impuls zwar ein Versprechen, aber keineswegs Erfüllung neuer, unausgesetzter und freier
Bewegung“ sei.
19
Der erste Abschnitt heißt: „Ich soll ein paar Worte sagen, die ich in der Tiefsee gehört
habe, wo so viel geschwiegen wird und so viel geschieht. Ich schlug eine Bresche in die
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 95

zeitlich als etwas der konkreten Bilderfahrung Vorgängiges bezeichnet (erkenn-


bar an temporalen Präpositionen und am Wechselspiel des Tempus) und ferner
durch den Begriff der „Gedankenpause“ (J, 158) als eine von den Bildern noch
unbeeindruckte Erwartungshaltung des selbstmächtigen Subjekts exponiert
wird, erscheint es als etwas Provisorisches, als Vorurteil, das sich im Lichte
der dann folgenden Bilderfahrungen bewähren oder eben auch nicht bewähren
kann.
Indem nun aber die Bildmeditationen das wieder aufnehmen, was die vor-
ausliegende Konzeptualisierung der kühnen Metapher verloren hat: nämlich die
Leidensgeschichte der Kreatur, revozieren (oder korrigieren) sie die Theorie der
kühnen Metapher, auf welche die Bilder Jenés als Beispiele bezogen sind, worin
sie aber dann nicht aufgehen. Wodurch die Bilder in der entfalteten Theorie
nicht aufgehen und worin sie die Theorie überragen, ist gerade die Fülle der in
sie eingeflossenen Geschichtlichkeit20.

Wände und Einwände der Wirklichkeit und stand vor dem Meeresspiegel. Ich hatte eine
Weile zu warten bis er zersprang und ich den großen Kristall der Innenwelt betreten durf-
te. Mit dem großen Stern der ungetrösteten Entdecker über mir, folgte ich Edgar Jené
unter seine Bilder.“ (J, 155; im Original kein Komma nach ‚warten‘) Am Leitfaden des
Tempus folgt der Leser aus der Erzählergegenwart, versteht die Einführung des Textes
als Hinführung und Vorbereitung auf die Bilder Jenés und nimmt folglich zunächst, den
späteren erneuten Tempuswechsel übersehend, alles Weitere als Ergebnis der Folgschaft
unter die Bilder.
20
Weil dies so ist (aber daß dies so ist, muß im Fortgang dieses Kapitels noch bewiesen wer-
den), kann Dorothee Kohler-Luginbühls Zentralthese zum Jené-Text (Kohler-Luginbühl,
Poetik im Lichte der Utopie, a.a.O., insbes. 13–38; 23) nicht trifftig sein: Wenn es heißt,
das Surreale zeige sich „als die eigentliche Ansicht des Realen, in der Verfremdung (wer-
de) erst die eigene Entfremdung sichtbar“, dann ist das zwar für den Surrealismus bzw.
die surrealistischen Ansprüche richtig, aus Celans Essay aber kann dies nicht abgeleitet
werden. Weil Kohler-Luginbühl die Textabschnitte unterschiedslos einer homogenen ar-
gumentativen Ebene zuordnet, anstatt ihr dialektisches und kritisches Verhältnis heraus-
zuarbeiten, verabsolutiert sie fälschlicherweise als geltende peotologische Aussage, was
als These gerade kritisiert werden soll. Für Celans frühe Poetik ist eher das Gegenteil
der Auffassung Kohler-Luginbühls zutreffend: dem Surrealistischen – so lautet Celans
Kritik – entgehe gerade die eigentliche Ansicht des Realen, nämlich das Attribut des
Geschichtlichen (in dem das Leiden am Realen aufbewahrt ist). Das Versäumnis, den
Jené-Text als literarisch verfahrenden Text zu analysieren – ein Versäumnis, das sich
u.a. an der nirgendwo argumentativ erarbeiteten Identifizierung von Text-Ich und Ce-
lan ablesen läßt – ist auch Johannes von Schlebrügges herausragende Untersuchung des
Jené-Textes anzukreiden; hier wird zwar die Revokation surrealistischer Postulate nicht
nur behauptet, sondern am Text herauspräpariert, aber Schlebrügge hat ein nicht leicht
nachvollziehbares Interesse, die poetologische Differenz Celans sowohl zur surrealisti-
schen Orthodoxie als auch zur Position Edgar Jenés stärker zu markieren, als dies in
Celans Wiener Zeit konzeptionell nachvollziehbar wäre. Aus dieses Erkenntnisinteresse
heraus versäumt Schlebrügge darzutun, daß und wie Celan genuin surrealistische Über-
legungen und Verfahren in seiner eigenen poetologischen Position aufhebt (‚aufheben‘ im
doppelten Sinne von aufbewahren und überschreiten). Vgl. J. SCHLEBRÜGGE, Geschichts-
sprünge. Zur Rezeption des französischen Surrealismus in der österreichischen Literatur,
96 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

Der Jené-Text21
Dem Leser des Jené-Textes wird in der Exposition sehr schnell klar, daß ein
Projekt, welches die Fundierung einer gereinigten und neuen Sprache durch die
Idee einer gesteigerten Vernunft zu leisten sucht, bei dem als Ich eingeführten
Berichterstatter einer Reise durch die „Tiefsee“ der „Innenwelt“ auf wenig Ge-
genliebe stößt. Es hätte nicht der Infragestellung der Okularität des abendlän-
dischen Denkens noch des Superioritätserweises eines in der Freizügigkeit des
Traums bewanderten Mundes22 bedurft, um zu begreifen, daß Vernunft, in An-
lehnung an Nietzsche als „Identitätskrämer“ und „tapferer Doktor der Tauto-
logie“ personifiziert, nicht als ein probates Mittel erscheint, um zu erfahren,
„was sich hier (d.h. in der Innenwelt, Anm. d. Verf.) ereignet“. Die Stelle im
Zusammenhang:
Alter Identitätskrämer! Was hast du erkannt, tapferer Doktor der Tautologie? Was hast
du erkannt, sag, am Rand dieser neuen Straße? Einen Auch-Baum oder Beinah-Baum,
nicht wahr? Nun suchst du wohl dein Latein zusammen für einen Brief an den alten Lin-
naeus? Hol dir lieber ein paar Augen aus dem Grund deiner Seele und setze sie dir auf die
Brust: dann erfährst du, was sich hier ereignet! (J, 155)

Aus diesem Zitat geht bereits hervor, daß das anschließende (erinnerte)
Gespräch, das die Frage nach den probaten Bedingungen ästhetischer Aus-

Kunst- und Kulturpublizistik nach 1945, Frankfurt a.M. Bern New York 1985, insbes.
74–122. Zur Kritik an Schlebrügge vgl. L. JORDAN, Europäische und nordamerikanische
Gegenwartslyrik im deutschen Sprachraum 1920–1970. Studien zu ihrer Vermittlung und
Wirkung, Tübingen 1994, 137, Anm. 41; 143f.
21
Der Stand der philologischen Forschung zum Jené-Text ist alles andere als befriedigend.
Sieht man von Schlebrügges Arbeit ab, ist, wo der Text nicht lediglich beiherspielend be-
handelt oder gar gänzlich übergangen wird, die text- bzw. erzähltheoretische Nach- und
Fahrlässigkeit, mit dem man die poetologische Aussage diesem vielschichtigen Text ent-
nimmt, stupend. Dazu stimmt es, daß die preisgekrönte Arbeit von Barbara Wiedemann-
Wolf über das Frühwerk Celans sich sonderbarerweise nur nebenbei über den Jené-Text
ausläßt und sich um eine Deutung erst gar nicht bemüht (B. WIEDEMANN-WOLF, Antschel
Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk, Tübingen 1985, 144–147). Selbst renommierte
Celan-Kenner wie Jerry Glenn (Paul Celan, New York 1973, insbes. 27–34; DERS., Dein
aschenes Haar, in: Die Pestsäule 1 [1972], 11–16), Otto Pöggeler („Schwarzmaut“. Bilden-
de Kunst in der Lyrik Paul Celans, in: DERS., Die Frage nach der Kunst. Von Hegel zu
Heidegger, Freiburg München 1984, 281–375, insbes. das Unterkapitel zum Jené-Text,
290–309), John Felstiner (Eine Biographie, übersetzt v. H. Fliessbach, München 1997, 83f.
[zunächst erschienen unter dem Titel Paul Celan: poet, survivor, Jew, New Haven London
1995]) und Amy Colin (Paul Celan’s Poetics of Destruction, in: DIES. [Ed.], Argumentum e
Silentio. Internationales Paul Celan-Symposium, Berlin New York 1987, 157–182) wissen
mit dem Text kaum mehr anzustellen als eine Montage aus Zitaten und Halbzitaten oder
– auch das kennen wir zur Genüge aus den zahllosen Interpretationen der Lyrik Celans
– die Deutung in der Feststellung seiner Entstehungsbedingungen aufgehen zu lassen.
22
„Mein Mund aber, der höher lag als meine Augen und kühner war, weil er oft aus dem
Schlaf gesprochen, war mir vorausgeeilt und rief mir seinen Spott zu: ...“ (J, 155)
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 97

einandersetzung aufgreift und eingehend thematisiert, bereits vorentschieden


ist. Auch die im Gespräch behandelte Frage, welche Rolle das Unbewußte des
Traums oder die Innenwelt in dem emanzipatorischen und innovatorischen
Prozeß der Läuterung spielen soll, ist allein schon durch den Prolog, durch An-
laß und Themenstellung des Essays nicht mehr unvoreingenommen zu klären.
In der Metaphorik des Kristallinen als eines Symbols der Innenwelt samt ihrer
negativen Verschränkung mit dem Bild des Spiegels als der Metapher der re-
flektorischen Verstandesbewegung und in der suggestiven Metaphorik der Tiefe
(in „Tiefsee“ oder der Wendung von der „anderen, tieferen Seite des Seins“) ruft
der Text die romantischen Vorbehalte gegen das Rationale auf und vollendet
so dessen Zurücksetzung23. Dennoch, trotz dieses eindeutigen Vorlaufs, unter-
bricht sich der Gang „unter seine (d. h. Jenés, Anm. d. Verf.) Bilder“ (J, 155) und
schaltet retardierend, ehe die sogenannte „Reise angetreten“ (J, 155) wird, die
Erinnerung an ein freundschaftliches Gespräch ein.
Einigung erzielen die Gesprächsteilnehmer über zweierlei; einmal über die
Voraussetzung dieses Unternehmens der Spracherneuerung: nötig ist eine
„Rückkehr zu einer unbedingten Naivität“ (J, 156) oder – was etwas mehr sagt
– „eine von der Schlacke der Jahrhunderte alter Lügen von dieser Welt ge-
reinigte und ursprüngliche Schau“ (J, 156); zum anderen erheben die beiden
Gesprächsteilnehmer einen vergleichbaren sprachkritischen Befund: es sind
die idolae der Sprache, welche den Wirklichkeitsbezug des Menschen mehr und
mehr trüben und schließlich ganz aufheben. Wichtig ist zu bemerken, daß Ge-
schichte hier als epistemisch problematischer Niederschlag einer auf uns ge-
23
Allerdings ist hier Vorsicht vor übereilten Schlüssen geboten, wie sie in der Forschung
immer wieder anzutreffen sind. Die oben angestellten Beobachtungen über das kompli-
zierte temporale Schichtungsverfahren des Textes läßt den Status dieser Passage prekär
werden; darüberhinaus sind aus einer immanenten poetologischen Reflexion Vorbehal-
te gegen eine rein positive Bezugnahme auf romantische Poetologeme und romantische
Bildfelder geltend zu machen. Schlebrügge (Geschichtssprünge, a.a.O., 94f.) verweist in
diesem Zusammenhang auf einen Vortrag von Tristan Tzara (T. TZARA, La dialectique
de la poésie, in: DERS., Le surréalisme et l’après-guerre, Paris 1948, 53ff.), den dieser
in Bukarest gehalten und von dem Celan wahrscheinlich direkt oder indirekt Kennt-
nis hatte; in diesem Vortrag „zieht Tzara eine gerade Traditionslinie vom französischen
Surrealismus zurück zur Dichtungstheorie der deutschen Romantik“ und kritisiert, daß
„eine Dichtung, die sich der surrealistischen Techniken und Formeln bediene, ohne ihre
kritische und utopische Funktion mitzudenken, nichts Anderes als ‚une nouvelle poésie
parnassienne‘“ sei. Auch darf nicht übersehen werden, daß Celans Text und den Bildern
Jené eine Vorbemerkung von Otto Basil beigegeben ist, die gerade jenes von Tzara inkri-
minierte und auch von Jené (E. JENÉ, Über den Surrealismus, in: Europäische Rundschau,
2 [1947], 709–711) explizit verworfene Konzept einer Kunst erneuert, die geschichtslos
„von allen Schlacken der Realität gereinigt“ ist und dem „musisch gestimmten Menschen
einen tiefen Blick tun (läßt) in eine ungeahnte und ungekannte Wunderwelt der Seele“
(O. BASIL, Vorbemerkung, in: Edgar Jené – Der Traum vom Traume. Mit 30 Abbildungen
und einer Vorbemerkung von Otto Basil, Wien 1948, 3–4; 4). Die Spannung zu Celans
Deutung der Bilder Jenés könnte größer nicht sein: Für ihn gilt die Innenwelt gerade als
Resonanzboden der Leidensgeschichte des Menschen.
98 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

kommenen sprachlichen Praxis erscheint. In der diskursfreien Präsenz letzter


Gründe, die die ursprüngliche Schau anstrebt, wäre sodann mit der Sprache die
Geschichte gelöscht, mit der Geschichtlichkeit des Sprechens die Sprache der
Geschichte.
Die argumentative Opposition der Widerredner beginnt sich da zu entfal-
ten, wo die Instanzen verhandelt werden, durch die die „ursprüngliche Schau“
erreicht und eine das Geschaute angemessen wiedergebende Sprache gefunden
werden könnte. Der Gesprächspartner setzt auf die Vernunft als ein Vermögen,
dessen ewige Ratschlüsse von der Patina der Geschichte und den Irrungen des
„unbewußten Seelenlebens“ befreit werden sollen, damit sie, die Vernunft, und
die Welt, die sie repräsentiert, wieder in ihrer Zeitlosigkeit und Unveränderlich-
keit, kurz: in ihrer Universalität zu erscheinen vermag.
Jetzt erkennen wir, daß der Vertreter der Vernunft nicht nur die idolae der
Sprache, sondern einen weiteren Gegner ausgemacht hat, den es gleichfalls im
Sinne des angestrebten Zieles auszumerzen gälte: die „finsteren Quellen“ (J,
157) des „unbewußten Seelenlebens“ (J, 156).
Durch das für Gewalt gegen Menschen unsensible Konzept der Zeitlosigkeit
seines Vorredners provoziert, mahnt nun der Zwischenruf des Erzähler-Ich die
Geschichtlichkeit der Welt und des in ihr von Menschen Menschen angetanen
Leids ein:
Hier kündigte sich der erste meiner Einwände an und war eigentlich nichts anderes als
die Erkenntnis, daß Geschehenes mehr war als Zusätzliches zu Gegebenem, mehr als
ein mehr oder minder schwer entfernbares Attribut des Eigentlichen, sondern ein dieses
Eigentliche in seinem Wesen Veränderndes, ein starker Wegbereiter unausgesetzter Ver-
wandlung. (J, 156)
Um den Widerspruch des eben Zitierten mit dem Erkenntnismodell einer
begriffslosen Ergriffenheit in „unbedingte(r) Naivität“ darzutun, die der Ich-
Erzähler zunächst vertreten hatte, bedarf es einer Analyse der jeweils voraus-
gesetzten epistemischen Prämissen. Das Unternehmen einer „Rückkehr zu
einer unbedingten Naivität“, die sich als „ursprüngliche Schau“ versteht, hält
zum einen an dem Anspruch einer quasi-göttlichen Totalansicht der Dinge fest.
Hierin unterscheidet das Ich des Gesprächs sich nicht grundsätzlich von seinem
Widerredner. Zum anderen – auch darin herrscht in der Tiefe der Episteme zwi-
schen beiden Übereinstimmung – setzt die Idee einer ursprünglichen Schau und
eines von der Geschichtlichkeit seiner Verwendung gereinigten Nennens der
Dinge in diesen etwas identisch Bleibendes voraus, das sich immer wieder iden-
tifizieren ließe, das ein für allemal seinen Ort im Sein gefunden hat, kurz: die
Idee einer zeitüberdauernden und unveränderlichen Gliederung des Seins. Nur
wenn es eine unabhängig von unserem Reden über die Welt bestehende trans-
situative Identität gibt, auf die man zu jeder Zeit und an jedem Ort zurückkom-
men kann, macht ein theoreîn, eine Schau, die sich als universales Unternehmen
von jeglicher geschichtlichen Trübung freizumachen gedenkt, überhaupt Sinn.
Wie Geschichte als Niederschlag schlechter Sprache, als Anhäufung von Lügen
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 99

erscheint, so erscheint das geschichtliche Werden auf dem Hintergrund der on-
tologischen Entgegensetzung des abendländischen Denkens zwischen Sein und
Erscheinung als Nachrangiges und wird aus dem Ideellen oder Substantiellen
in die Akzidentien abgedrängt, die gerade gelöscht werden sollen. Soweit eine
philosophische Rekonstruktion des ersten Plädoyers.
Nun wird die volle Tragweite der Zumutung erkennbar, die von dem Modell
eines werdenden Seins und einer wesentlich widerruflichen und zerstörbaren
Welt ausgeht – einer Welt, die nicht nur ohne Gott auskommen muß, sondern in
der auch Transtemporalität und Immutabilität als ontologische Grundbestim-
mungen des Seins nicht mehr gelten; unter der Hand ist das Gespräch zu etwas
geworden, das weit mehr verhandelt, als den rechten Zugang zur Wirklichkeit;
das ontologische Grundmodell des Abendlandes, und damit zusammenhängend,
das rationalistische Sprachkonzept, wird hier verabschiedet aufgrund einer ge-
schichtlichen Dynamik und ästhetischen Verbindlichkeit, die wesentlich mit
der Chiffre Auschwitz zu tun hat: daß nach dem Inbegriff „des Schrecklichen
und Entsetzlichen, was Menschen anderen Menschen antun können“24 eine ge-
schichtsneutrale und für das Leiden der Menschen unsensible Auffassung der
Welt und der Sprache an den Opfern das Verbrechen wiederholt, weil sie ihm
einen ontologischen und sprachlichen Niederschlag verweigert.
Von hier aus wird auch Celans Festhalten an der deutschen Sprache als der
Sprache seiner Lyrik verständlich. Denn wie es die deutsche Sprache war, in
der der Holocaust organisiert und befohlen wurde, so muß es – unter den Denk-
voraussetzungen Celans durchaus konsequent entwickelt – zwar eine gänzlich
verwandelte, aber doch wiederum eine deutsche Sprache sein, die dieses Leid
beklagt und faßbar zu machen versucht. Es hat also nicht im mindesten etwas
mit sprachoptimistischem Denken, sondern vielmehr mit einer streng anti-
rationalistischen Sprachauffassung zu tun, wenn es in der Bremer Literaturpreis-
rede heißt:
Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: Die Sprache. (...)
Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurch-
gehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse
todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah:
aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten,
‚angereichert‘ von all dem. (H, 185f.)

Oben wurde gesagt, der Zwischenruf mit seinen ontologischen und sprach-
kritischen Implikationen stünde, begründet durch das Unerhörte seiner Zumu-
tung, zu dem Vorangegangenen in Widerspruch und Isolation. Er bleibt dies
auch mit Blick auf das Folgende, bedenkt man, daß in der Wiederaufnahme
der sprachkritischen Bewegung Geschichte erneut nur als Ablagerung einer
falschen Sprachpraxis auftritt, die den authentischen Ausdruck innerer und den

24
H. JONAS, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a.M. 1987,
10.
100 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

wahrheitsgemäßen Ausdruck äußerer Welt verhindert, aber mit deren Aufhe-


bung Geschichtlichkeit wieder ausgemerzt würde.
Ich war mir klar geworden, daß der Mensch nicht nur in den Ketten des äußeren Lebens
schmachtete, sondern auch geknebelt war und nicht sprechen durfte – und wenn ich von
der Sprache rede, so ist damit die ganze Sphäre menschlicher Ausdrucksmittel gemeint
– weil seine Worte (Gebärden und Bewegungen) unter der tausendjährigen Last falscher
und entstellter Aufrichtigkeit stöhnten – was war unaufrichtiger als die Behauptung, die-
se Worte seien irgendwo im Grunde noch dieselben! So mußte ich auch erkennen, daß
sich zu dem, was zutiefst in seinem Innern seit unvordenklichen Zeiten nach Ausdruck
rang, auch noch die Asche ausgebrannter Sinngebung gesellt hatte und nicht nur diese!
(J, 157)
Auf dem Hintergrund dieser Totalisierung des Verdachts gegen die auf uns
gekommene Sprache zeichnet sich nun das Projekt der Reinigung und Neuerung
ab. Es speist sich, so läßt sich vermuten, gerade aus jenen „finstern Quellen“ des
Unbewußten, die der Gegenredner der Vernunft trockenlegen und aufklären
wollte. Es ist notwendig, die Passage in extenso zu zitieren:
Wie sollte nun das Neue also auch Reine entstehen? Aus den entferntesten Bezirken des
Geistes mögen Worte und Gestalten kommen, Bilder und Gebärden, traumhaft verschlei-
ert und traumhaft entschleiert, und wenn sie einander begegnen in ihrem rasenden Lauf
und der Funken des Wunderbaren geboren wird, da Fremdes Fremdesten vermählt wird,
blicke ich der neuen Helligkeit entgegen ins Auge. Sie sieht mich seltsam an, denn obwohl
ich sie heraufbeschwört habe, lebt sie jenseits der Vorstellungen meines wachen Denkens,
ihr Licht ist nicht das Licht des Tages, und sie ist von Gestalten bewohnt, die ich nicht
wiedererkenne sondern erkenne in einer erstmaligen Schau. Ihr Gewicht besitzt eine an-
dere Schwere, ihre Farbe redet zu einem neuen Augenpaar, mit dem meine geschlossenen
Lider einander beschenkt haben, mein Gehör ist hinübergewandert in mein Getast, wo es
sehen lernt; mein Herz erfährt, nun, da es meine Stirn bewohnt, die Gesetze einer neuen,
unausgesetzten und freien Bewegung. Ich folge meinen wandernden Sinnen in die neue
Welt des Geistes und erlebe die Freiheit. Hier, wo ich frei bin, erkenne ich auch, wie arg
ich drüben belogen worden bin. (J, 157f.; Kursiv im Original gesperrt.)
Mehrere Akzente sind zu setzen: Es braucht nicht umständlich darüber dis-
kutiert zu werden, daß in dieser Passage die surrealistische Ästhetik und das
Konzept der surrealistischen Metapher in knappster Form entfaltet werden.
Der Traum als ein Bezirk, der von den Ordnungsleistungen der Vernunft noch
unbetroffen ist, die Bildfelder des Funkens, des Lichts und der Helligkeit, die
Idee kühner Assoziation zwischen Fremdesten, die Uranfänglichkeit der zufäl-
ligen Lösungen, die Entgrenzung der Sinne – all diese Elemente des surrealisti-
schen Bildbegriffs verbindet Celan hier zum Exempel einer kaum mehr steiger-
baren Intensität synästhetischer Erfahrung25.
25
Es seien zwei Belegstellen aus dem surrealistischen Kontext als Vergleichshintergrund
angegeben: „Das stärkste Bild, muß ich gestehen, ist für mich das, das von einem höch-
sten Grad von Willkür gekennzeichnet ist; für das man am längsten braucht, um es in die
Alltagssprache zu übersetzen, sei es, daß es einen besonders hohen Grad an offenkundiger
Widersprüchlichkeit aufweist, sei es, daß einer seiner Ausdrücke merkwürdig verborgen
bleibt, sei es, daß es sensationell zu sein verspricht und sich dennoch leicht auflösen läßt
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 101

Auffällig ist allerdings, daß in der Passage nur beiläufig und abschließend
kurz an das erinnert wird, wodurch die Erfahrung notwendig und wogegen sie
eingesetzt wurde: an ihre anarchische Mission gegen die Falschheit des zweck-
rationalen bewußten Lebens; auch kann nicht ganz zufällig sein, daß der Schluß-
satz die kategoriale Trennung von ‚Hier‘ und ‚Drüben‘ erneuert, welche die Dy-
namik der ästhetischen Erfahrung gerade schleifen wollte.
Aber der Befund gilt nach wie vor: die Erfahrung der Freiheit im surreali-
stischen Bild ist rein negatorisch bezogen auf die Wirklichkeit und das Ge-
schehen, für welches das Ich eigentlich eine Sprache suchte – eine Sprache,
die die Spuren der Geschichte trägt und, an sie erinnernd, in die Wirklichkeit
eindringt, um diese als eine geschichtlich gewordene erkennbar zu machen. Das
hier entfaltete Konzept surrealistischer Bildlichkeit leistet dies nicht. Das Ich
– so könnte man die Gesprächs-Episode pointieren –, zunächst angetreten für
die Rückgewinnung einer wahren Ursprungssprache, die sich durch die dis-
kursfreie Evidenz letzter Gründe legitimiert, greift sodann mit dem Ziel, den
Veränderungsimpuls der geschichtlichen Erfahrung aufzunehmen, nach dem
surrealistischen Bild. Diesem wird zwar auf der einen Seite das entfesselte
Schöpferische zugetraut. Auf der anderen Seite jedoch gibt es Geschichtlichkeit
und Ursprungssprache gleichermaßen preis. Das Ich endet schließlich in den
anarchischen Delirien einer monomanisch mit seinem Inneren befaßten Spra-
che, in der Selbst, Geschichte und Wirklichkeit nur als dasjenige anwesend sind,
was in deutend-interpretierenden Handlungen erst noch innovativ erschlossen
werden muß26. Es ist kein Zufall, daß genau an diesem Punkt des Textes Celans
Deutungen der Bilder Jenés einsetzen.

(...), sei es, daß es eine ungenügende formale Rechtfertigung in sich selbst findet, sei es,
daß es etwas Halluzinatorisches in sich trägt, sei es, daß es ohne weiteres dem Abstrakten
die Maske des Konkreten verleiht oder, umgekehrt, daß es die Verneinung irgendeiner
grundlegenden physischen Eigenschaft in sich begreift, sei es, daß es Gelächter auslöst.“
(A. BRETON, Erstes Manifest des Surrealismus (1924), in: DERS., Die Manifeste des Surrea-
lismus, Reinbek bei Hamburg 1986, 9–43; 36.) Das zweite Zitat stammt von P. Reverdy
und wurde zunächst in Nord-Sud (Nr. 13) in dem Essay L’Image veröffentlicht: „L’Image
est une création pure de l’esprit. Elle ne peut naître d’une comparaison mais du rapp-
rochement de deux réalités plus ou moins éloignées. (...) On crée (...) une forte image,
neuve pour l’esprit, en rapprochant sans comparaison deux réalités distantes dont l’esprit
seul a saisi les rapports.“ (zit. nach P. REVERDY, Nord-Sud. Self defence et autres écrits sur
l’art et la poésie [1917–1926], Paris 1975, 73–75).
26
Jakobs Analyse des Jené-Textes (Das „Andere“ Paul Celans, a.a.O., insbes. 155–158) ist
zwar, anders als die Arbeit von Schulz, dem die von uns herausgearbeitete argumentative
Dynamik ganz entgeht (Negativität in der Dichtung Paul Celans, a.a.O., 28–36), gleicher-
maßen sensibel für die surrealistischen Bezüge und die kritische Absetzbewegung gegen
den Surrealismus. Jakob diese aber allein mit dem Ad-hoc-Argument zu erklären, daß der
Text die surrealistische Programmatik nur zum Schein mitvollziehe und diese schließlich
auf den akzeptablen Kernsatz der Vermählung von Fremdestem reduzieren würde. Die
um vieles plausiblere Erklärung liegt fraglos in der über Tempusschichtung ausdifferen-
zierten Vorgängigkeit des theoretischen Diskurses vor seiner Konfrontation mit dem,
was dieser überschauen soll: den Bildern Jenés.
102 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

Was nun folgt, sachlich von der als zeitlich vorgängigen Reflexion distanziert
und abgesetzt, ist nicht leicht verständlich zu machen. Auch die Zuhilfenahme
der Bildvorlagen Jenés würde wohl nur bedingt helfen; zwar wäre manche iso-
lierte Wendung durch die Verbindung zu bestimmten Bildelementen semantisch
faßbar, zu einer zusammenhängenden und insgesamt verständlichen Deutung
der Bilder indes runden sich die Meditationen dadurch nicht. Der Begriff Medi-
tation trifft das Verfahren Celans recht genau: in immer neuen Ansätzen, ohne
Anspruch auf beschreibende Vollständigkeit, Homogenität der Perspektive und
Stringenz der thematischen Entfaltung werden in einer durch sprachkritische
Passagen inhaltlich, durch doppelte Absätze und Sternchen graphisch ständig
unterbrochenen Textbewegung die Bilder umkreist, einzelne Bildelemente auf-
genommen, in Sprache gebracht und assoziativ fortgesponnen; dabei springt
die Surrealität der Bilder konsequent auf die syntagmatische Einbindung von
– gemessen an den gängigen lexikalischen und idiomatischen Einschränkungen
– disparaten linguistischen Einheiten über27.
Nun arbeitet bereits die erste Meditation zu dem Bild Ein Segel verläßt ein
Auge dem Verlust entgegen, den die kühne Metapher laut Celan in ihrer surrea-
listischen Konzeptualisierung erlitten hatte: dem Verlust von Indexikalität auf
das in der Geschichte sich ereignende Leiden der Kreatur. An einer späteren
Textstelle wird dies noch klarer festzumachen sein, aber das folgende Zitat gibt
bereits einen ersten Eindruck, wie Celan sich die Verbindung von Geschichte
und Surrealität im Bild vorstellt:
Denn dieses Profil einer Frau, deren Haar, ein wenig blauer als ihr aufwärtsblickender
Mund (in einem uns sichtbar bleibenden, schräg über ihm liegenden Spiegel erkennt die-
ser Mund sich selber, prüft seinen Ausdruck und wertet ihn als richtig), dieses Profil ist
eine Klippe, ein eisiges Denkmal an den Zugängen des inneren Meeres, das auch ein Meer
der welligen Tränen ist. (J., 158f.; Herv. d. Verf.)

Weniger vorsichtig erfolgt die Stellungnahme mit Blick auf das Bild Das rote
Meer geht über Land. Revoziert wird die klassische Position der surrealistischen

27
Gewiß ist die Sache methodologisch und textlich weit komplizierter, als wir es hier vorge-
ben; es wäre allerdings eine eigene Untersuchung wert, sowohl das Verhältnis zwischen
Celans Worten und Jenés Bilder als auch jenes zwischen dem assoziativen Kontext und
jenen Anteilen, die sich deutlich erkennbar den Bildern Jenés zuwenden, zu klären.
Wiederum ist es, soweit ich sehe, einzig die Arbeit von Schlebrügge (Geschichtssprünge,
a.a.O., 108–122), die versucht, die einzelnen Bildbetrachtungen zu interpretieren und so-
wohl kritisch mit dem Selbstverständnis Jenés und dessen Bildern zu verbinden als auch
mit der Lyrik Celans in ein positives Verhältnis zu setzen. In dieser Hinsicht hat die wis-
senschaftliche Diskussion sicherlich erst begonnen. Obwohl Schlebrügges Deutungen in
vielen Einzelbeobachtungen überzeugen können, will sein pauschales Gesamturteil nicht
recht einleuchten: Seine These lautet (Schlebrügge, ebd., 108), Celan nutze „das Bildma-
terial in strikt subjektiver Allegorese zur Ausstattung eines Gegenkonzepts gegen die von
Jené repräsentierte Ästhetik, in das die eigene Geschichtserfahrung in einer Weise inte-
griert wird, die weder Wirklichkeit poetisch verklären, noch der Utopie melancholisch
entsagen will.“
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 103

Bildlichkeit auf eindringliche und doppelte Weise; einmal, weil die Monomanie
oder der Solipsismus des Unbewußten, der das Wunderbare als das ausgezeich-
net Alogische aus sich entläßt, gebrochen wird durch den Verweis auf eine Sache,
die alle Menschen gleichermaßen existentiell betrifft: den Krieg; sodann, weil
an dieser Stelle ausdrücklich das Überschreiten jener epistemisch-ästhetischen
Grenze erfragt und gefordert wird, die der Schluß der essayistischen Erörterung
über die surrealistische Bildlichkeit in der semantischen Entgegensetzung von
‚hier‘ und ‚drüben‘ noch einmal bestätigt und befestigt hatte.
Was Edgar Jené hier erstmalig Gestalt annehmen läßt – ist es nur hier zuhause? Wollten
wir nicht auch den Alp der alten Wirklichkeit besser erkennen, wollten wir nicht den
Schrei des Menschen, unseren eigenen Schrei, vernehmen, lauter als sonst, gellender?
Seht hin: dieser untere Spiegel zwingt alles, Farbe zu bekennen: „Das Blutmeer geht über
Land“: Entvölkert und ergraut sind die Hügel des Lebens. Auf nackten Füßen durchwan-
dert das Gespenst des Krieges die Länder. Krallen hat es wie die Raubvögel oder Zehen
wie der Mensch! Vielgestaltet ist es und was ist es jetzt? Ein schwebendes Blutzelt. Wenn
es niederschwebt, wohnen wir zwischen Blutwänden und Blutfetzen. (Herv. d. Verf., 160)

Deutlich spürbar ist die Suche nach einer Sprachform, die auf der Grundlage
und über die surrealistische Bildersprache und Bildtransformationen, die im
Zitat vorgeführt werden, appellative Ansprüche mit expressiven und referen-
tiellen Funktionen zu vermitteln vermag. Sprache muß demnach Träger des
eigenen und fremden Leidens sein, muß zugleich die Aktualität seiner Expo-
sition soweit steigern können, daß eine Stellungnahme des Betrachters oder
Lesers unausweichlich ist. Drittens müssen ihre Einheiten mit geschichtlicher
Referenz erfüllt sein. Und zudem und vor allem wird dieser Sprache die Bildung
eines erkennenden Bewußtseins zugetraut, das die idolae und Repressionen der
eingespielten Gliederung des Wirklichen kenntlich zu machen imstande ist.
Der Text endet und kulminiert in einer kompakt und isotopisch durch-
formten Allegorie eines Fahneneides, der dem Schlaf seine Gefolgschaft zu-
sichert und vor allem dem, was sich in ihm ereignet: der Anarchie des surreali-
stischen Traumes. Aber noch einmal werden zugleich die Argumente erkennbar,
die Celans Distanz zum klassischen Surrealismus anzeigen und seine eigene Posi-
tion erkennbar machen. Dem genauen Hinsehen erschließen sich sogar deutlich
kritische Töne gegen den Surrealismus. Es heißt:
Oft haben wir als Wache geschworen: im heißen Schatten ungeduldiger Fahnen, im Ge-
genlicht des fremden Todes, am Hochaltar unserer heiliggesprochenen Vernunft. Und wir
haben unsere Schwüre auch gehalten, um den Preis unseres heimlichen Lebens, aber als
wir dorthin zurückkehrten, wo wir sie geleistet – was mußten wir sehen? Die Farbe der
Fahne war noch dieselbe, der Schatten, den sie warf, sogar größer als zuvor. Und wieder
hob man die Hand zum Schwur. Aber wem gelobte man jetzt Treue? Dem anderen, dem,
dem wir Haß geschworen. Und der fremde Tod? Er hatte recht so zu tun, als hätte er un-
serer Schwüre überhaupt nicht bedurft... (J., 160; Herv. i. Original gesperrt)

Wieder aufgenommen wird hier die Forderung nach einer Überwindung der
Grenze, genauer: des bisher beanspruchten Geltungsbereichs surrealistischer
104 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

Erfahrung. Und dies nicht als zusätzliche Option, sondern aus einem die Not
wendenden Sollen heraus: denn die Freiheitserfahrung im Surrealen, der am
Ausgang der essayistischen Erörterung kardinaler surrealistischer Verfahren
noch eine subversive Potenz beigemessen wurde28, reicht offenkundig nicht mehr
hin, einem gelingenden Leben den Boden zu bereiten; auch nicht, den Menschen
Mittel an die Hand zu geben, mit denen aus dem „Alp der alten Wirklichkeit“ (J,
160) in die Freiheit der Surrealität zu erwachen wäre.
Bleibt demnach die surrealistische Erfahrung in der Monomanie ihrer traum-
haften Verwandlungen befangen, so bleibt auch die Wirklichkeit des ‚drüben‘
von den Freiheitsbestrebungen des Surrealistischen unerreicht. Solange es
nicht auf das reale Leben übergreift, macht es sich überdies der Affirmation
der falschen Faktizität schuldig: „Die Farbe der Fahne war noch dieselbe, der
Schatten, den sie warf, sogar größer als zuvor.“ (Herv. d. Verf., J, 160) Der Preis
für das transitorische Gelingen der Freiheit im Traum ist hoch: er besteht letzt-
lich in der Depotenzierung des „heimlichen Lebens“ zu einem Raum, in dem
kritische Impulse, die gegen das Andere des Surrealen, die rationale Welt, ge-
richtet sind, restlos absorbiert werden. Und weil das Bestehende, als struktu-
relle Gewalt den personalen Trägern entzogen („als hätte er unserer Schwüre
überhaupt nicht bedurft“ [J, 160]), sich als Struktur fortzeugt – eine These, die
an Horkheimers und Adornos Begriff der instrumentellen Vernunft29 erinnert
– bedarf es nicht nur der surrealistischen Eröffnung eines kontrafaktischen Be-
wußtseins im Traum – eines Bewußtseins, daß die bestehenden Ordnung nicht
die einzige und einzig mögliche ist. Es bedarf vielmehr einer direkten Stellung-
nahme kontra das Faktische – eine Stellungnahme, die also dem Faktischen
gleichsam die Stirn bietet 30.

28
Vgl. nochmals das folgende Zitat: „Ich folge meinen wandernden Sinnen in die neue Welt
des Geistes und erlebe die Freiheit. Hier, wo ich frei bin, erkenne ich auch, wie arg ich
drüben belogen worden bin.“ (J, 157f.)
29
Vgl. M. HORKHEIMER und T. W. ADORNO, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag-
mente, Frankfurt a.M. 1969, passim.
30
Zu Details der Surrealismusrezeption im deutschsprachigen Raum im allgemeinen und
zur Frage des Einflusses surrealistischer Ideen auf Celan im besonderen vgl. Schlebrüg-
ge, Geschichtssprünge, a.a.O., und Jordan, Europäische und nordamerikanische Gegen-
wartslyrik im deutschen Sprachraum 1920–1970, a.a.O., 130–150. Auf den Jené-Text geht
Jordan allerdings nicht ein. Für das fragliche Niveau der Surrealismus-Rezeption, so sie
kritisch intendiert ist, spricht unter anderem die Einsinnigkeit der Einwände: die von
V. O. Stomps herausgegebene Streit-Zeit-Schrift gelangt über eine mehr oder weniger ge-
lungene Ridikülisierung der Genitiv-Metapher nicht hinaus; vgl. V. O. STOMPS, Fabel von
der Metapher und ihrem Genitiv, in: Streit-Zeit-Schrift 1 (1956), 3–9; W. HÖLLERER, Die
Metapher überhaupt, ebd., 28–40. Anläßlich eines 1961 von den Akzenten veranstalte-
ten Lyriksymposiums, an dem unter anderem Vetreter der konkreten und politisch enga-
gierten Dichtung teilnahmen, konkretisiert Höllerer seine Stellungnahme (W. HÖLLERER,
Das Ungelegenheitsgedicht, in: Akzente 8 [1961], 23–26; 25): „Ich halte mehr und mehr
eine Metapher-Enthaltsamkeit in der Lyrik für richtig; denn die Häufung von Metaphern
ist oft zum Unfug geworden. Aber an der richtigen Stelle wird vielleicht gerade eine ver-
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 105

Die Meridian-Rede oder ‚Wie man Metaphern ad absurdum führt‘


Die Frage nach Struktur, Sinn und Funktion des Metaphorischen wird in der
Meridian-Rede, wie es vorderhand den Anschein hat, eher beiläufig gestellt und
beantwortet. Ganze zwei Stellen gehen darauf ein. Sie sind zudem recht lapi-
dar formuliert, und der sprunghafte, immer in neuen Anläufen den Gegenstand
umkreisende Argumentationsfluß der Rede bewirkt ein übriges. Die erste Stelle
bestimmt das Gedicht als den Ort, an dem die Metaphern ad absurdum geführt
werden, die zweite (die wir als Motto verwendet haben) rückt den Bezug auf
die Metapher in die Nähe eines geographisch-philologischen Scherzes: Celan
spricht am Ende der Rede von dem Fund eines Meridians, der – „heitererweise“
– die Tropen durchkreuze. Trotz oder gerade wegen der Beiläufigkeit haben jene
beiden Stellen eine lang anhaltende, reiche und bis heute nicht abgeschlossene
Kontroverse nach sich gezogen.
Der Gegensatz, der die ganze Rede beherrscht und überwölbt, mithin auch
in Celans Deutung des Metaphorischen den Ausschlag gibt, ist der zwischen
Dichtung und Kunst. Kunst erscheint als das, was in der lateinischen Antike
mit dem Begriff der ars bezeichnet wurde: als Kunstfertigkeit, die stets Gefahr

rückte Metapher die notwendige Ungelegenheit widerspiegeln und schaffen. Genitivme-


taphern sind scheußlich; aber vielleicht wird es gerade eine Genitivmetapher sein, die
morgen meine Theorien über den Haufen wirft.“
Zu nennen wäre auch der die deutsche Rezeption des Surrealismus in den 30er und 40er
Jahren bestimmende Essay von Walter Benjamin, der erstmals in Die literarische Welt
am 1.2.1929 veröffentlicht wurde. „Damals aber, als er (der Sürrealismus, Anm. d. Verf.)
in Gestalt einer inspirierenden Traumwelt über seine Stifter hereinbrach, schien er das
Integralste, Abschließendste, Absoluteste. Alles, womit er in Berührung kam, integrierte
sich. Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf
ist, in jedem ausgetreten war, wie von Tritten massenhafter hin und wider flutender Bil-
der, die Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Ex-
aktheit derart glücklich ineinandergriffen, daß für den Groschen ‚Sinn‘ kein Spalt mehr
übrigblieb. Bild und Sprache haben den Vortritt. (...) Nicht nur vor dem Sinn. Auch vor
dem Ich. Im Weltgefüge lockert der Traum die Individualität wie einen hohlen Zahn. Die-
se Lockerung des Ich durch den Rausch ist eben zugleich die furchtbare, lebendige Erfah-
rung, die diese Menschen aus dem Bannkreis des Rausches heraustreten ließ. (W. BENJA-
MIN, Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz [1929],
in: DERS., Angelus Novus. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1966, 200–215, 201f.)
Obwohl von verschiedenen gedanklichen Voraussetzungen ausgehend, entfaltet Benjamin
hier ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zum Surrealismus wie Celan. Benjamin sieht
einerseits den anarchischen Impuls und den unbedingten Willen zur Befreiung aus den
überkommenen Denk- und Lebensformen, wie sie in der surrealistischen „Theorie der
‚Surprise‘“ (ebd., 212) oder in der Verherrlichung des Bösen zum Ausdruck kommt; auf
der anderen Seite ist, so Benjamin, der Surrealismus auf halbem Wege stecken geblieben,
und dies, weil er versäumt habe, den Impuls der ästhetischen „Revolte an die Revolution
zu binden“ (ebd.). Erst wenn der sprachlich-ästhetische Bildraum, von dem das obige
Zitat spricht, den „Raum des politischen Handelns“ (ebd., 214) erschließt, wäre die eman-
zipatorische Mission des Surrealismus ans Ziel gelangt.
106 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

läuft, wie Celan im Brief an Hans Bender schreibt, „über die Mache allmählich
zur Machenschaft“ (178) zu werden. Bemerkenswert ist, daß Celan keinesfalls
die traditionell verbürgte Opposition bemüht, wonach der ars die Ingenialität
des Dichtersubjekts als ein unlernbares, authentisch poetisches Vermögen ge-
genüberstünde und diesem überlegen wäre. Der Gegensatz zur Kunst im Sinne
der ars ist Kunst im Sinne einer ‚gegenwörtlichen‘ Dichtung. Gegenwörtliche
Kunst kann man als jene Form des Sprechens charakterisieren, die den einge-
übten und disponibel gemachten Formen der Beschreibung und Bewältigung
von Welt, dem Erwartbaren und Bestehenden entgegentritt. In diesem Sinne
aktiviert – nach Celans Worten – Büchners Lucile mit ihrem prima facie reak-
tionären Ausruf „Es lebe der König!“ (M, 189) die Gegenwörtlichkeit der Dich-
tung. Das Gegenwort, und hier tritt ein Entscheidendes hinzu, steht überdies
in inniger Verbindung zur Kategorie der „für die Gegenwart des Menschlichen
zeugende(n) Majestät des Absurden.“ (M, 190)
Diese Assoziation zwischen dem Menschlichen und dem Absurden ist nun
alles andere als selbstverständlich. Sie offenbart aber Bezüge zu zwei weiteren,
miteinander verschränkten, aber keineswegs identischen Ebenen, auf denen die
Gegenwörtlichkeit der Dichtung signifikant ist: einmal als Innovation in einem
radikalen Sinne, gedeutet (wir zitierten das bereits)
als aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleich-
zeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlos-
senen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation. (M, 197)

Sodann als eine Dynamik der lyrische Rede, die den repräsentationalistischen
Anspruch der Sprache und der Kunst aufhebt, ohne den Gedanken an eine das
Menschliche meinende außersprachliche Referenz preiszugeben, anders: die den
Begriff der referentiell erfüllten Darstellung unabhängig von der Idee der Wieder-
vergegenwärtigung eines vormals Präsenten zu denken unternimmt31. Deshalb
31
Vgl. hierzu Ph. LACOUE-LABARTHE, Katastrophe, in: W. Hamacher und W. Menninghaus
(Hrsg.), Paul Celan, a.a.O., 31–57, insbes. 55f. Lacoue-Labarthe hat zwar mit aller Souve-
ränität Celan als denjenigen bestimmt, an dem die crise de la représentation lyrisch zu
Tage tritt, andererseits es aber bedauerlicherweise bei einem bloßem Hinweis belassen,
aus dem die Dringlichkeit eines nicht-repräsentationalistischen Referenzbegriffes her-
vorgeht. Wir zitieren dennoch die einschlägige Stelle, auch weil sie die Verbindung des
Entwickelten zur Metaphernfrage vorbereitet. Auf S.55 heißt es: „Aus diesem Grund (weil
der dichterische Akt nach L.-L. ein katastrophischer ist, Anm. d. Verf.) ist es gerechtfer-
tigt, die Dichtung als Unterbrechung der Kunst, das heißt, der Nachahmung (mimesis), zu
denken. Der dichterische Akt ist Wahrnehmung, nicht Darstellung [représentation]. Nur
ein Schon-Gegenwärtiges kann, zumindest dem ‚alten Lärm‘ zufolge, dargestellt werden.
Das ‚im Erscheinen Begriffene‘ aber stellt sich nicht dar, man müßte denn den Begriff
der Darstellung anders denken. In der Dichtung organisiert die Darstellung sich von dem
her, was man den ontischen Vergleich (Vergleich von Schon-Gegenwärtigem mit Schon-
Gegenwärtigem) nennen könnte, aus dem die Figuren und Bilder, ‚alle Tropen und Meta-
phern‘, alle Wendungen hervorgehen, die es erlauben, einen bestimmten Sprachgebrauch
als ‚dichterisch‘ zu definieren.“
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 107

spricht Celan wiederholt und eindringlich davon, daß Wirklichkeit gesucht und
suchend entworfen werden müsse, daß Wirklichkeit nicht einfach da sei.
Aus diesen beiden Postulaten, dem nicht-repräsentationalistischen, aber re-
ferentiellen Sprachkonzept auf der einen und der damit zusammenhängenden
Notwendigkeit eines immer wieder zu leistenden Entwerfens der Wirklichkeit
auf der anderen Seite wird verständlich, warum der Dialog zur Theorie der
kritischen Stunde werden mußte: weil das Ich in und vermittels der Dichtung
(vergißt und im Vergessen) freigesetzt ist (vgl. M, 193) und weil das „hier und
solcherart freigesetzte und befremdete Ich“ (M, 196) allein im Raum des Ge-
sprächs, das das Gedicht ist, entworfen und bestimmt werden kann.
Was wäre also dann „das Gedicht mit seinen Bildern und Tropen“? (M, 199),
was wären dann die Bilder?
Das einmal, das immer wieder einmal und nur jetzt und nur hier Wahrgenommene und
Wahrzunehmende. Und das Gedicht wäre der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad
absurdum geführt werden wollen. (M, 199)

Die Celan-Forschung hat längst die These zurückgewiesen, daß aus dieser
Stelle ein eindeutig negativer Entscheid gegen das Metaphorische hervorgehe;
allerdings sind plausible und zusammenhängende Versuche rar, denen es gelingt,
die differenzierte Haltung Celans zur Metapher aus dem obigen Zitat abzuleiten
und mit seiner Poetik in ein stimmiges Verhältnis zu bringen. Ad-hoc-Hypothe-
sen sind an der Tagesordnung32. Die sicherlich genaueste und aussichtsreich-

32
So wird sich aus dem folgenden erweisen, daß das Ad-absurdum-Führen der Metaphern
keineswegs, wie Janz (Engagement, a.a.O., 115) annimmt, mit einem Prozeß des Ent-
semantisierens oder der Transzendierens der Bedeutungsfunktion von Sprache gleich-
kommt. Auch schießt Ralf Zschachlitz (R. ZSCHACHLITZ, Vermittelte Unmittelbarkeit im
Wort: Paul Celans kritische Poetik, Frankfurt a.M. Bern u. a. 1990, 173–182) über das
Ziel hinaus, wenn er den Unterschied zwischen eigentlichem und uneigentlichem Spre-
chen in Richtung auf eine generelle Uneigentlichkeit der Sprache einebnet, ohne eine
klares Konzept der Uneigentlichkeit anzugeben, das nicht wieder von der zurückgelasse-
nen Unterscheidung zehren würde und so ihren begrifflichen Rahmen beibehielte. Pro-
blematisch vor allem ist das Ausgliederung der Lyrik Celans aus dem Geltungsbereich
referentieller Sprache. Ähnlich unbefriedigend T. SPARR, Celans Poetik des hermetischen
Gedichts, Heidelberg 1989 und DERS., Metaphorische Gedankenstriche zwischen Inge-
borg Bachmann und Paul Celan, in: B. Böschenstein und S. Weigel (Hrsg.), Poetische
Korrespondenzen. Vierzehn Beiträge, Frankfurt a.M. 1997, 176–188; Sparr sieht noch
immer im „Eigentlichkeitstheorem“ das „entscheidende Kriterium für die Erkennbarkeit
der Metapher“ (ebd., 178). Mag dies noch hingehen, weil die Rede von der ‚Eigentlich-
keit‘ nicht notwendig den repräsentationalistischen Fehlschluß impliziert, sondern noch
gedeutet werden kann als ein pragmatisches Prädikat, das im Unterschied zum Un-
eigentlichen lediglich das Vorherrschen einer als ‚realistisch‘ eingespielten Diskursforma-
tion oder Weise der Welterzeugung (Goodman) anzeigt; in den Fallstricken des von Celan
gerade angegriffenen Modells der Sprache verfängt sich Sparr aber dann doch, wo er
für Celans Metaphorik die Qualität des A-Mimetischen geltend macht; denn im Konzept
des A-Mimetischen ist die mimetische Option, mithin die ontologische Voraussetzung ei-
ner ansichseienden Wirklichkeit gar nicht preisgegeben; überdies läßt sich, worauf mit
108 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

ste Deutung der Celanschen Metaphorik stammt von Winfried Menninghaus33.


Dieser distanziert nicht nur souverän den substitutionstheoretischen Ansatz,
wonach die Metapher als eine nicht-wörtliche Bezeichnung einer auch eigentlich
benennbaren Sache gedacht ist, indem er die in dieser Auffassung eingeschrie-
benen repräsentationalistischen Prämissen einer literal theory of meaning ent-
hüllt. Er präzisiert auch die Einwände gegen Gerhard Neumanns34 Verständnis
der absoluten Metapher, das negatorisch auf einen Begriff der nicht-absoluten
Metapher bezogen ist und somit deren theoretischen Bestand nicht nur nicht
angreift, sondern als etwas voraussetzt, in dessen Licht die absolute Metaphorik
allererst begriffliche Kontur erlangt. „Soweit sich nun eine ‚absolute‘ Metapher
nur durch ein ‚nicht ins Eigentliche‘ zurückholbares ‚Mehr an Aussageleistung‘
auszeichnen soll, bleiben für alle nicht als ‚absolut‘ zu bezeichnenden Metaphern
noch immer ungebrochen die ‚Phantome‘ der traditionellen Metaphern-Refle-
xion in Kraft“35.
Dabei hält Menninghaus nicht nur an der Möglichkeit einer referentiell er-
füllten Metaphorik auch in ihrem absoluten Status fest und verbindet diesen
Gedanken mit dem Erschließungsmodell der Sprache36. Überdies setzt er eine
notwendig negative Korrelation zwischen Innovation in der Sprache und der
semantischen Schärfe ihrer Einheiten (von der Menninghaus mit H. Weinrich
glaubt, sie wäre allein ein Produkt des Kontextes, in dem die Metapher steht):
„Richtet sich die Sprecherintention (...) auf die Darstellung eines Gedankens,
einer Wahrnehmung oder einer Realität, die in sich selbst (noch) konstitutiv
‚unerfüllt‘, also auch noch nicht vollends ‚gegeben ist‘“, dann kann die ‚absolute‘
Metapher „nur eine uneindeutige und in ihrer denotativen Energie ‚ungesät-
tigte‘ Schwebe semantischer Relationen“37 produzieren. Wenn Metaphern also
je absolut sind, so sind sie es in dem Sinne, daß sie von dem eingespielten und
institutionell verankerten Diskurs abgelöst sind und ihre erschließende Mission
zwar aufnehmen, aber noch auf keinen bereits konstituierten Bedeutungsraum
bezogen wären, der ihnen eine feste semantische Kontur verleihen würde.

Blick auf Celan zu insistieren ist, eine Referenz des Gedichts auf die außersprachliche
Geschichte des Leidens im Modell des A-Mimetischen nicht formulieren.
33
Menninghaus, Paul Celan. Magie der Form, a.a.O., 130–171.
34
Menninghaus bezieht sich auf Gerhard Neumanns Aufsatz Die ‚absolute‘ Metapher, a.a.O.
35
Menninghaus, Paul Celan. Magie der Form, a.a.O., 149.
36
So seltsam diese These zunächst anmuten mag, so stringent ist sie aus der Poetik Celans
entwickelt. Das folgende Zitat belegt dies eindrücklich. Sein Kontext macht unmißver-
ständlich klar, daß über die Würdigung Mandelstams hinaus Celans eigene Position zum
Ausdruck kommt: „Sie (die Gedichte aus Mandelstams Gedichtband Der Stein, Anm. d.
Verf.) sind keine ‚Wortmusik‘, keine aus ‚Klangfarben‘ zusammengewobene, impressioni-
stische ‚Stimmungspoesie‘, keine das Wirkliche sinnbildlich überhöhende ‚zweite‘ Wirk-
lichkeit. Ihre Bilder widerstehen dem Begriff der Metapher und des Emblems; sie haben
phänomenalen Charakter.“ (P. CELAN, Die Dichtung Ossip Mandelstams, in: Ossip Man-
delstam. Im Luftgrab. Ein Lesebuch, hrsg. v. R. Dutli, Frankfurt a.M. 1992, 69–81, 70).
37
Menninghaus, Paul Celan. Magie der Form, a.a.O., 152f.
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 109

Auf dem Hintergrund des eben Gesagten wird deutlich, daß Celan in der
Bestimmung des Gedichtes als des Orts, an dem die Metaphern ad absurdum
geführt werden sollen, zwei Formen des Metaphernverständnisses, die sich auf
wohldefinierbare Streitpunkte der Metapherntheorie im 20. Jahrhundert bezie-
hen lassen, komprimiert und kritisch gegeneinander geführt hat. Solange die
Metapher aus der Substitution „von Schon-Gegenwärtigem mit Schon-Gegen-
wärtigem“38 ihren ästhetischen Wert bezieht, partizipiert sie an der eingespiel-
ten Sprachordnung und setzt diese voraus. Sobald sie aber durch die ihr eigene
Bewegung des Transzendierens, des metaphérein, ihren rhetorischen Hinter-
grund negiert, nimmt sie aktiv die emanzipatorische Mission auf, die Celan ihr
zuschreibt. Das ist der nähere Grund dafür, warum das obige Zitat das Gedicht
als den Ort bestimmt, an dem die Metaphern nicht etwa schon ad absurdum
geführt sind, sondern ad absurdum geführt werden, wobei der volle Akzent auf
dem prozessualen bzw. aktivischen Moment liegt.
Es ist ja auch daran zu erinnern, daß der Begriff des Absurden in der Me-
ridian-Rede bereits besetzt ist und dort gerade nicht für die Zerstörung von
Bedeutung schlechthin steht. Im Gegenteil: einerseits verweist er im Zusam-
menhang mit Büchners Lucile auf den aktiven Austritt aus den herrschenden
diskursiven Formationen, von denen die ars einen affirmativen Teil bildet; ande-
rerseits steht das Absurde – wie wir ausgeführt haben – in poetologischer Ver-
bindung sowohl mit dem Verlassen des abbildlichen Diskurses als auch mit dem
Innovationsverlangen eines das Menschliche weiterhin meinenden Subjekts. Die
Metapher selbst wäre in dieser Hinsicht – paradox formuliert – die Bewegung
der Absurdisierung ihrer eigenen repräsentationalistischen Rudimente. Oder
anders, die Metaphern ad absurdum führen heißt dann: in ihnen die ihnen eige-
ne Gegenwörtlichkeit zu entbinden. So wird die Metapher, soweit sie ihr substi-
tuäres Herkommen abstößt, zum Gegenwort par excellence39.
Die zweite Stelle, die auf den Begriff der Metapher anspielt (und welche die
Rede beschließt), eignet sich besonders gut, die Poetik Celans und seine Auffas-
sung der Metapher zu rekapitulieren. Sie lautet:
Ich finde etwas – wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas
Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heiterer-
weise – sogar die Tropen Durchkreuzendes –: ich finde ... einen Meridian. (M, 202)

38
Lacoue-Labarthe, Katastrophe, a.a.O., 55.
39
In dieser paradoxen Doppelung des Metaphernverständnisses macht sich Celan eine ter-
minologische Besonderheit zunutze, die im griechischen Etymon von metaphérein auf-
bewahrt ist. Die Metapher ist im Handbuch als Begriff der rhetorischen Stilistik inven-
tarisiert und dem allgemeinen Gebrauch verfügbar gemacht, in ihren Verfahrensweisen
ausgeleuchtet und in ihrem perlokutionären Effekt als Teil des persuasiven Unterneh-
mens kalkuliert. Und doch ist sie trotz der Beschreibung ihrer semantischen Struktur
und ihres Wirkens nicht in der Reichweite ihrer semantischen Innovationen beherrsch-
bar. Insofern verfällt ihr Begriff dem Verdikt labiler Semantik, das er lanciert, und bleibt
offen für Neueinschreibungen, wovon die Geschichte der Metaphernreflexion in endloser
Zahl zeugt.
110 Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher

Interessanterweise ist diese Passage selten auf eine einläßliche und nicht
nur paraphrasierende Weise interpretiert worden40; gerade die Leitmetapher
des Meridians ist in den Kommentaren seltsam dunkel geblieben. Dabei muß
sie Celan – man denke wie bei der Leitmetapher des ‚Neigungswinkels‘ an ihren
technischen Klang – sehr bewußt ausgewählt haben. In einem sehr allgemei-
nen Sinne sind – zumindest in ihrer historischen Entwicklung41 – ‚Meridiane‘
Erkundungslinien, die beides meinen: zunächst Begrenzung und orientierende
Durchdringung des bislang Erschlossenen, dann aber auch Leitlinien in bisher
unerschlossenes Gebiet. Den Vergleich dieses Netzes von geographischen Raum-
linien mit der Sprache hat Celan selbst im Zitat angelegt. Er weist sofort auf die
nicht-repräsentationalistische Deutung der Sprache, die wir bereits mehrfach
betont haben. So wie die Realität nicht an sich und immer schon bestimmte
signifikante Schnitte trägt, die sich dann als sprachliche Gliederung in Begrif-
fen und ihren syntaktischen Verknüpfungen einfach abbilden ließen, so weist
die Erde kein materielles Substrat für Meridiankreise auf.
Noch etwas anderes ist in der Überblendung von Sprache und Meridian mit-
gemeint. Das konventionelle Netz der Meridiane, das über die Welt geworfen
ist mit dem Ziel, bestimmte Schnitte der Erdoberfläche auszudifferenzieren, er-
möglicht, jeden Punkt nach seinen Raumkoordinaten zu bestimmen. Um nun als
Raumpunkt im Gefüge der Meridiane gegenwärtig zu werden, bedarf es eines
Bezuges dieses Raumpunktes auf die einander entgegengesetzten Pole. Der Ort
ist folglich sich nicht unmittelbar und unzeitlich vertraut, sondern erst durch
sein Verhältnis zu den beiden Gegenpolen kann dies gelingen. Man wird un-
schwer hinter dieser Skizze das Differentialitätsprinzip der Zeichenbildung und
der Individuation erkennen. Es macht deutlich, daß nicht der identische Selbst-
bezug das ursprüngliche Selbstbewußtsein bildet, sondern erst über die Relation
auf das andere des Selbst: Mitmenschen und Mitwelt vermittelt ist. Daraus folgt:
Das Selbst des Selbstbewußtseins ist mit sich weder unmittelbar bekannt noch
wird ihm in dieser Begegnung sein vorgängiges Selbst zurückgespiegelt: präsent
ist das Selbst allein als ein durch die Begegnung mit dem anderen Gewonnenes.
Übertragen auf die Poetik Celans hieße dies, daß im Gedicht nicht das Selbst
des Dichters eingetragen und disponibel wäre. Das Gedicht ist die Heimkehr zu
etwas, das erst noch gewonnen werden muß.
An dieser Stelle müssen wir etwas nachtragen: Celan spricht nicht von dem
Netz der Meridiane (obwohl er es mitmeint), das sich gemäß einer Übereinkunft
entlang der Längengrade, gebündelt in den Gegenpolen, über die Erde ausbrei-
tet. Der Schluß der Rede spricht ja von einem Meridian, der von einem indi-

40
Vgl. A. POPPENHUSEN, Durchkreuzung der Tropen. Paul Celans „Die Niemandsrose“ im
Lichte der traditionellen Metaphorologie und ihrer Dekonstruktion, Heidelberg 2001;
hierzu auch B. WIEDEMANN, Rez. in: Arbitrium 21 (2003), 114–116.
41
Für Details vgl. J. B. HARLEY and D. WOODWARD (Eds.), The History of Cartography,
Bd.1,1: Cartography in Prehistic, Ancient, and Medieval Europe and the Mediteranean,
Chicago London 1987.
Paul Celans Vergeschichtlichung der Metapher 111

viduellen Punkt aus die Längsextreme der Erde erreicht. Aber wieder bleibt
der Bezug des individuellen Moments auf ein Gemeinsames und Mitteilbares
enthalten: es liegt in der Ausrichtung jedes individuellen Punktes auf die allen
gemeinsamen Pole und in der Idee des Meridians selbst, die unter der Dringlich-
keit entstanden ist, daß Menschen sich im Raum orientieren und – mit welchen
Beweggründen auch immer – begegnen können.
Der Scherz, der aus der metaphorischen Verbindung von Meridian und in-
dividueller Sprache resultiert, ist nun interessanterweise zugleich ein Schulfall
dessen, was eine absolute Metapher (im obigen Sinne) vermag und was sie dann
von ihrem eigenen Begriff nicht gänzlich fernhalten kann: das Überschreiten
der Begriffsgrenzen, unter denen sie bisher als rhetorische Substitution von
Schon-Gegenwärtigem nach stilistischem Maßstab und Rechtfertigung subsu-
miert war. Im Referenzsystem des Geographischen meint das ‚Durchkreuzen‘
noch eindeutig ein Durchlaufen (also keineswegs eine Vermeidung, eine Aus-
lassung oder ein Überspringen), im rhetorischen Kontext verstehen wir unter
‚Durchkreuzen‘ zunächst eine Art Vereitelung. Aber schon der Rückgang auf
die gemeinsame etymologische Wurzel des geographischen und stilistischen Be-
griffes der Tropen macht die Situation komplizierter. Das griechische trépein
verweist auf einen zentralen poetologischen Begriff im Denkens Celans: den der
Wende. Überdies läßt die geistesgeschichtliche Dimension des geographischen
Begriffs für Spekulationen freien Raum42. Doch auch wenn man die spekula-
tiven Konnotationen und etymologischen Verweise übergeht, verschiebt die
metaphorische Ineinanderspiegelung der Referenzsysteme den Sinngehalt des
‚Durchkreuzens‘. Es hält in seinem metaphorischen Kontext die Position zwi-
schen Kritik und Durchgang, an dessen Ende das Kritische geleistet wäre, meint
also ein Aufheben im Hegelschen Doppelsinn von Überschreiten und Bewahren.
Wir erkennen nun den stringenten Bezug des ‚Scherzes‘ auf die Bewegung des
Ad-absurdum-Führens der Metaphern im Mittelteil der Rede. Celan führt vor,
wovon er gleichzeitig handelt: wie die Metapher sich der Mittel des Metapho-
rischen bedient, um über sich selbst bzw. über ihre substitutionstheoretischen
Hintergründe hinauszugelangen: zu der „für die Gegenwart des Menschlichen
zeugende(n) Majestät des Absurden.“ (M, 190)

42
Man denke etwa an Robert Müllers Roman Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden ei-
nes deutschen Ingenieurs [1915] (hrsg. v. G. Helmes, Stuttgart 1993), in dem die Bedeu-
tungsvielfalt des Begriffs Tropen konstitutiv wird. Sie sind sowohl der topographische
Ort der im Roman unternommenen Reise als auch der stammesgeschichtliche Urort der
Menschheit, psychologisch der Ort der Regression, gnoseologisch der Ort einer durch die
ratio ungebremsten, triebhaften, spontanen Welthaltigkeit, Ort des Traums und der Hal-
luzination, der Vision. Zugleich sind die Tropen erkenntnistheoretische Metapher für die
These, daß der Mensch den Tatsachen nur Sinn unter der Bedingung einer symbolischen
Tätigkeit zuerkennt.

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